Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
im Theater San Ferdinando gewesen sei, um einer Aufführung des Stücks »Die Gründung der Camorra« beizuwohnen?, fragte er. Abbatemaggio entgegnete ruhig, er sehe sich nur komische Opern an – »Die Lustige Witwe« und dergleichen. »Und außerdem, warum sollte ich mir ein Theaterstück über die Camorra ansehen, da ich dem Verein doch selbst angehört habe?«
Die schlagfertige Antwort wurde auf der Galerie mit beifälligem Gelächter quittiert.
Daraufhin versuchten die Verteidiger Abbatemaggio zu diskreditieren, indem sie seine geistige Gesundheit in Zweifel zogen: Er sei ein »hysterischer Epileptiker«, behaupteten sie, wobei sie sich des dubiosen Psychojargons der Zeit bedienten. Ein Experte, der ihn gründlich untersucht hatte, war anderer Ansicht, nannte ihn aber dennoch einen besonders faszinierenden Fall. Immer wieder hielt Abbatemaggio denjenigen, die seine Zeugenaussage in Zweifel zogen, Namen, Daten und zahlreiche andere Details entgegen. Vielleicht konnte man ihn als einen »genialoiden« Menschen klassifizieren, eine seltene Mischung aus Genie und Wahnsinn; seine »Gedächtnisleistung und Intuition«, hieß es, seien »in der Tat phänomenal«.
Abbatemaggios Glaubwürdigkeit als Zeuge war auch seiner Fähigkeit geschuldet, eine Geschichte über sich selbst zu erzählen, eine Geschichte der Wiedergutmachung. Mit seinem Geständnis, behauptete er, habe er sein sittliches Empfinden wiedererlangt. Die Liebe zu dem jungen Mädchen, das er vor kurzem geheiratet habe, sei seine Rettung gewesen. »Camorrista gibt Komplizen preis, um Braut für sich zu gewinnen«, lautete die Schlagzeile in der
New York Times
.
Unterdessen saß Camorraboss Erricone mit finsterem Blick in seinem Käfig und spie Gift und Galle. Er war drahtig, hatte tiefliegende Augen, einen wuchtigen Kiefer und eine verstörende Narbe, die sich vom Mundwinkel bis zum rechten Ohr zog. Er trug einen schwarzen Anzug, weil sein jüngerer Bruder Ciro, einer der fünf Männer, die in der Mordnacht im Mimì a Mare gespeist hatten, in der Untersuchungshaft an Herzversagen gestorben war. Abbatemaggios Zeugenaussage kommentierte Erricone gelegentlich mit halblauten Bemerkungen. »Die Laus ist wie ein Grammophon, solange einer an der Kurbel dreht, plappert sie munter drauflos.« Der Name blieb kleben: Von nun an würden die Angeklagten vom »Grammophon« sprechen, wenn sie Abbatemaggio meinten.
Als Erricone in den Zeugenstand gerufen wurde, waren zunächst viele überrascht, wie eloquent und überzeugend er sprach. Er führe ein Geschäft in der Piazza San Ferdinando, erklärte er, wo er Pferdefutter verkaufe – Kleie und Johannisbrot. Er handle außerdem mit Pferden, versorge die Kasernen in Neapel und im Umland; er habe eine Menge Geld verdient mit dem Export von Mauleseln für die britische Armee in Transvaal während des Burenkriegs. Zwar bestritt er, ein Camorrista zu sein, räumte aber ein, dass er ein ziemlicher Hitzkopf war und tatsächlich manchmal Geld zu sehr hohen Zinsen verlieh. Es liege ihm eben im Blut.
»Verehrte Geschworene, Sie müssen stets bedenken, dass wir Neapolitaner sind. Wir sind Söhne des Vesuvs. In unserem Blut gibt es eine seltsam gewalttätige Neigung, die klimatisch bedingt ist.«
Die Carabinieri, schloss Erricone, stempelten ihn zum Kriminellen und hätten Zeugen bestochen. Er habe im Gefängnis so gelitten, dass ihm die Haare ausgefallen seien.
Mehrere Polizisten diverser Ränge wurden nacheinander in den Zeugenstand gerufen und ratterten Erricones Vorstrafenregister herunter. Er habe seine Laufbahn als kleiner Zuhälter begonnen. Wie viele andere Camorristi handelte Erricone mit Pferdefutter, weil ihm dies einen guten Vorwand bot, um von Droschkenkutschern Geld zu erpressen und Einfluss zu nehmen auf den Pferde- und Maultiermarkt. Er beschütze die renommierte Spielhölle des »Lehrers«, erklärten sie und bestätigten, dass er der eigentliche Boss der Camorra sei. Der nominelle Boss dagegen sei ein gewisser Luigi Fucci, bekannt als
o gassusaro
– »der Sprudelmann« –, weil er einen Stand mit Sprudelgetränken betreibe. Erricone benutze ihn als Galionsfigur und behalte die wirkliche Macht in den eigenen Händen.
Erricone zeigte allmählich sein wahres Gesicht: das eines Schurken mit Gentleman-Fassade, eine Maske, die ihn jedoch nur noch spärlich verbarg. Die übrigen Angeklagten machten keine bessere Figur. Arthur Train, ein ehemaliger Staatsanwaltsgehilfe in New York, war einer von vielen
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