Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Ametta vor Gericht seine Geschichte erzählte.
Es ging darin um einen Dieb, der in die Ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen werden wollte. Was diesen Fall ungewöhnlich und umstritten machte, war die Tatsache, dass viele Camorristi den Dieb für einen Päderasten hielten. In früheren Zeiten hätte man nicht lange gefackelt: Hahnreie, Diebe und Päderasten blieben ausgeschlossen. Demgemäß beschwor der damalige
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(Buchhalter) die alten Vorschriften und weigerte sich beharrlich, besagten Dieb in die Organisation aufzunehmen. Doch die Meinungen innerhalb der Gruppe gingen auseinander; und der »Päderast« bemühte sich nach Kräften, seine Freunde unter den Camorristi zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Der Streit brodelte weiter, bis der »Päderast« eines Abends in einer Schenke im Forcella-Viertel eine Rauferei provozierte, bei welcher der
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sich schwere Kopfverletzungen zuzog. Plötzlich stand die Ehrenwerte Gesellschaft am Rande eines Bürgerkriegs.
Felice Ametta erzählte, er habe kurz nach der Schlägerei von dieser möglicherweise explosiven Spaltung erfahren. Als hartgesottener Ordnungshüter, der es gewohnt war, das Verbrechen mit Hilfe der Camorra in Schach zu halten, habe er Erricone zu einem Treffen in ein Café in der Via Tribunali bestellt.
Kaum tönten diese Worte durch den Gerichtssaal in Lucca, drehten die Geschworenen die Köpfe nach Erricone, der schäumte vor Wut.
»Mich willst du zu einem Treffen bestellt haben? Ich bin doch kein Polizeispitzel! Niemals! Ich ginge tausendmal lieber ins Gefängnis, als dass ich die Schande auf mich nähme, einen Polizisten zu treffen!«
Für jemanden, der vehement bestritt, ein Camorrista zu sein, war dieser Ausbruch doch höchst entlarvend.
Als die Ruhe wiederhergestellt war, erklärte Ametta, dass Erricone gerade in dieser prekären Zeit die Kontrolle über die Ehrenwerte Gesellschaft übernommen und sich als Friedensstifter dargestellt habe. Sein Führungsprogramm habe allerdings ein Zurückdrehen der Uhr beinhaltet:
»Erricone wollte so etwas wie eine Camorra alter Schule gründen, mit strengen Regeln und Vorschriften und einem Tribunal, das in der ersten Instanz zwei Rechtsanwälte, bei Anhörungen vor dem Berufungsgericht sogar vier Rechtsanwälte und einen Generalsekretär vorsah.«
Schallendes Gelächter ertönte im Gerichtssaal angesichts des gewählten Juristenjargons, dessen sich die Ganoven für ihre schmutzigen Angelegenheiten bedienten. Doch Amettas Aussage war ernst gemeint und ließ tief blicken. Er hatte im Grunde nichts anderes sagen wollen, als dass die Camorra nach dem Lehrbuch, wie Hauptmann Fabroni und Gennaro Abbatemaggio sie in Viterbo beschrieben hatten, in den Straßen von Neapel längst nicht mehr der Realität entsprach. Sie existierte allenfalls als politisches Vorhaben, das von einem neuen Anführer propagiert wurde, der verzweifelt darum bemüht war – vermutlich aus purer Selbstsucht –, das bröckelnde Gebäude der Ehrenwerten Gesellschaft zusammenzuhalten.
Als daher Erricone verhaftet wurde, fiel der letzte Paladin der alten Ordnung, und die Ehrenwerte Gesellschaft war dem Niedergang anheimgegeben. Der Cuocolo-Prozess konnte zwar die Camorra nicht zerstören, wohl aber den einzigen Mann, der noch an sie glaubte, der die Realität der Ehrenwerten Gesellschaft wieder den Vorgaben in den kriminologischen Lehrbüchern angleichen wollte.
Die Straßenpolizisten, die im Cuocolo-Prozess ihre Aussagen machten, erlebten den Verfall der Ehrenwerten Gesellschaft aus nächster Nähe. Doch als Straßenpolizisten waren sie nicht verpflichtet, Erklärungen zu suchen. Ihr lebhaftes Zeugnis gibt dem Historiker daher einige Rätsel auf.
Offenbar konnte die alte Camorra nur schwer mit der Geschwindigkeit Schritt halten, mit der sich Neapel modernisierte. Im Zuge der Demokratisierung des Landes erhielten die Politiker Zugang zu immer besseren Möglichkeiten, Arbeitsplätze, Wohnungen und andere Gefälligkeiten zu verteilen. Infolgedessen reichte das System der Ämterpatronage bald bis weit hinein in die Unterstadt, wo es mit der Camorra um deren Klientel konkurrierte. Die Camorrabosse konnten nicht dagegenhalten, indem sie zu einer »hohen Camorra« mutierten, sich ihre
eigenen
Politiker schufen, selbst zum Staat
wurden
, anstatt
Teilen
des Staates zu dienen. Die Ehrenwerte Gesellschaft blieb im Kern, was sie immer gewesen war: eine kriminelle Elite unter den zerlumpten Armen. Der Sprung von den Kellerlöchern in die
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