Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
diesen beachtlichen Zuschuss zu den Betriebskosten für seine Yacht von diesem Moment an die Staatsanwaltschaft unterstützt habe.
Der Prozess, der die Ehrenwerte Gesellschaft Neapels zerstört hatte, entpuppte sich als gigantischer Bluff. Rasch erwirkte man eine vorzeitige Freilassung der Camorristi, die eineinhalb Jahrzehnte zuvor verurteilt worden waren – sofern sie in der Zwischenzeit nicht verstorben waren oder den Verstand verloren hatten.
Die Zahl der Ungereimtheiten im Cuocolo-Fall ist bis zum heutigen Tag Legion. Es lässt sich nicht einmal sagen, ob zumindest Abbatemaggios Geständnis im Jahr 1927 alle Fakten offenlegte. Er war bereits in Viterbo ein nicht verlässlicher Zeuge gewesen, und blieb es wohl auch weiterhin. Wir können noch immer nicht mit Gewissheit sagen, ob Erricone und seine Männer das Ehepaar Cuocolo tatsächlich getötet haben. Wir haben noch immer keine Erklärung für die Brutalität, mit der die Morde in jener Juninacht im Jahr 1906 vonstatten gegangen waren. Warum hatte der Mörder so oft auf Gennaro Cuocolo eingestochen? Warum hatte er seine Leiche bewegt und zur Schau gestellt? Warum waren die Geschlechtsteile seiner Frau verstümmelt worden? Warum hatte man die öffentliche Empörung und den politischen Druck in Kauf genommen, die einem solch beispiellosen Gemetzel unweigerlich folgen mussten?
Meine eigene unmaßgebliche Meinung ist, dass Erricone tatsächlich schuldig war: Die Gendarmen hatten den Richtigen erwischt, aber die für seine Überführung erforderlichen Beweise gefälscht. Sogar die Streifenpolizisten, die in Lucca ausgesagt hatten, hielten die Cuocolo-Morde für Racheakte der Camorra.
Die Cuocolo-Morde ergaben im Zusammenhang mit Erricones politischem Projekt, seinem Plan, den welkenden Traditionen der Ehrenwerten Gesellschaft neues Leben einzuhauchen, durchaus einen Sinn. Erricones Gedanken im Vorfeld der Morde verliefen vermutlich in folgenden Bahnen: Gennaro Cuocolo hatte innerhalb der Ehrenwerten Gesellschaft einmal eine große Rolle gespielt, als Impresario äußerst lukrativer Einbrüche. Dann hatte er der Camorra den Rücken gekehrt und war eigene Wege gegangen; er gehörte fortan einer größeren, weniger an Regeln gebundenen Verbrecherwelt an. Seine Frau durfte ihm nun Gefährtin sein, anstatt nur die Straßennutte, die es gemäß den Regeln der Camorra auszubeuten und wegzuwerfen galt. Gennaro Cuocolo stellte demnach eine doppelte Bedrohung dar: Er war nicht nur ein Rivale im Kampf um die Kontrolle über den strategischen Handel mit gestohlener Ware, sondern auch der lebende Beweis dafür, dass die Ehrenwerte Gesellschaft bröckelte. Also musste die Camorra Gerechtigkeit üben wie in alter Zeit. Grausamer als in alter Zeit. In einem letzten, verzweifelten Versuch, die alte Zeit zurückzuholen.
Wer auch immer die Cuocolos ermordet hatte, für Neapel wurde die Angelegenheit allmählich zu einer lästigen, umstrittenen Erinnerung. Abbatemaggios spätes Bekenntnis hob zwar die Urteile auf, verschlimmerte damit aber noch das Debakel. So waren, obwohl Italien diesen epochalen Sieg über die Ehrenwerte Gesellschaft Neapels zu verzeichnen hatte, Wahrheit und Gesetz mit Füßen getreten worden. Nicht zuletzt aus diesem Grund sollte sich die Camorra nach ihrem Tod eines langen, blutigen Lebens erfreuen.
Zwischen den Krisen der 1890 er Jahre und dem Ersten Weltkrieg hatte Italien der Demokratie entgegengeschlingert und war ein Schauplatz für öffentliche Debatten in der Presse gewesen. Gleichzeitig hatte es dem organisierten Verbrechen den Kampf angesagt. Das Ergebnis war in beiden Fällen eher durchwachsen.
Italien trat als ein zutiefst gespaltenes Land in den Weltkrieg ein. Es ging siegreich daraus hervor, stand jedoch kurz vor dem Zerfall: Seine brüchige Demokratie scheiterte bald an den politischen Spannungen, die das unmittelbare Vermächtnis des Krieges waren. Der Faschismus übernahm die Macht. Und nachdem die Demokratie den Kampf gegen das organisierte Verbrechen verloren hatte, prahlte die faschistische Diktatur mit ihren Erfolgen.
Zwei Wochen nach Gennaro Abbatemaggios Bekenntnis hielt Benito Mussolini am 26 . Mai 1927 eine der bedeutendsten Reden seines Lebens – sie würde als »Himmelfahrtsrede« in die Annalen eingehen. Er verknüpfte darin – überzeugender als jeder seiner liberalen Vorgänger – seine politische Glaubwürdigkeit mit der Verbrechensbekämpfung. Und damit nicht genug: Er verkündete das unmittelbar bevorstehende Ende
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