Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
und des »Grammophons«.
Die Ehrenwerte Gesellschaft basiere auf zwei Grundsätzen, erklärte Polizist Simonetti, dem Verteilen der Beute unter den Mitgliedern und dem blinden Gehorsam, der Omertà. »Die Camorra war so mächtig, dass sie wie ein Staat im Staate funktionierte.«
War
so mächtig: Die Vorherrschaft der Camorra gehörte also ausdrücklich der Vergangenheit an. Simonetti erklärte weiter, dass die genannten Prinzipien der kriminellen Sekte allmählich bröckelten.
»Jetzt geht die Beute an den, der die Arbeit erledigt hat, nicht mehr an das Kollektiv, es sei denn, irgendein energischer Boss setzt sich durch und kassiert Schmiergeld. Die Unterwelt zeigt nicht mehr den blinden Gehorsam von früher: Es gibt keine Bestrafungen mehr.«
Der Polizist Simonetti lokalisiert hier eine wesentliche neue Schwäche der Ehrenwerten Gesellschaft. Sie hatte ihre Fähigkeit verloren, Kriminelle systematisch zu »besteuern« – in anderen Worten, Schmiergelder von ihnen zu kassieren. Früher einmal hatten Camorristi mit dieser Art von Erpressung Kleinkriminelle in derselben Weise beherrscht wie ein Staat seine Untertanen. Seit die Macht, Verbrechen zu besteuern, im Schwinden begriffen war, wurde die Camorra einer beliebigen Verbrecherbande immer ähnlicher und daher auch anfälliger für dieselben langweiligen Rivalitäten, die regelmäßig andere Banden spalteten. Der blinde Gehorsam war verschwunden.
Simonetti stellte klar, dass einzelne Gruppen von Camorristi nach wie vor taten, was sie seit Jahrzehnten getan hatten: Sie raubten, betrieben Zuhälterei und Wucher, manipulierten Auktionen, schüchterten Wähler ein, erpressten Händler und veranstalteten illegale Lotteriespiele. Fast alle wichtigen Hehler der Stadt gehörten nach wie vor der Ehrenwerten Gesellschaft an. Camorristi begegneten einander noch immer mit Respekt. Die einzelnen Camorrazellen in jedem Stadtviertel blieben bestehen. Doch ihre Macht hing neuerdings schlicht vom Durchsetzungsvermögen und dem Charisma einzelner Krimineller ab. Simonetti zufolge gab es die Camorra als »organisiertes Kollektiv« nicht mehr.
Die alten Sakramente hatten ihren Zauber verloren. Früher markierte ein lebensveränderndes Übergangsritual den Zeitpunkt, zu dem ein Krimineller in die Ehrenwerte Gesellschaft erhoben wurde. Jetzt missbrauchten deren Mitglieder das Ritual als Gelegenheit, anderen Ganoven zu schmeicheln und ihnen Geld abzuluchsen. Wie Simonetti es formulierte: »Früher einmal war es eine ernste Angelegenheit und wurde mit Blut besiegelt. Jetzt wird nur noch mit Wein getauft.«
Andere zuverlässige Polizeibeamte ergänzten Simonettis Bericht. Einer von ihnen, Giovanni Catalano, hatte früher oft beobachtet, wie Abbatemaggio mit Erricone, dem »Lehrer« und anderen führenden Camorristi gemeinsam beim Pizzaessen saß. Die Camorra existiere durchaus noch, betonte Catalano: In der Polizeiakte eines jeden verurteilten Delinquenten befinde sich das Telegramm eines Gefängnisleiters, der wissen wollte, ob der betreffende Schurke ein Mitglied der Ehrenwerten Gesellschaft sei, weil er ihn dann in dem abgeschirmten Flügel unterzubringen habe, der den Camorristi vorbehalten sei. Doch die Schwarten über die Camorra, die zuhauf in den Regalen neapolitanischer Buchläden zu finden seien, fuhr Catalano fort, basierten auf veralteten Quellen und hätten lediglich den Zweck, »die morbide Neugier der Leser« zu befriedigen. Die Bosse der Ehrenwerten Gesellschaft seien mittlerweile außerstande, auf den blinden Gehorsam ihrer Mitglieder zu pochen, ihre Tribunale endgültig verschwunden. Allein die Tatsache, dass ein Camorrista wie Gennaro Abbatemaggio zur Polizei überlief, war ein beredtes Zeichen, wie sehr sich alles verändert hatte.
Das lebhafteste Polizeizeugnis von allen war das letzte. Ein dritter Beamter, Felice Ametta, begann seine Aussage scherzhaft mit der Behauptung, er habe seine Karriere zur selben Zeit begonnen wie viele der Männer im Käfig die ihre, und zählte die verschiedenen Oberbosse der Ehrenwerten Gesellschaft auf, seit er 1893 nach Neapel gekommen war; er kannte sie alle. Doch die Organisation, so Ametta, befinde sich in einer Krise, einer Zeit interner Querelen. Ametta erinnerte sodann an den denkwürdigen Vorfall, der geradewegs zum Aufstieg des neuen Oberbosses Erricone geführt hatte und die Spaltung innerhalb der Camorra in den Anfangsjahren des 20 . Jahrhunderts deutlich machte.
Selbstverständlich hörte Erricone aufmerksam zu, als
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