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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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einzige Mann in Viterbo, der mit dem Finger auf Abbatemaggio zeigte: Auch der »Kuhhirte« bezichtigte ihn der Morde und bezeichnete ihn unentwegt als »Killer«. Demnach scheinen sowohl Kläger als auch Verteidiger zu dem Schluss gelangt zu sein, dass Abbatemaggio einer der Mörder des Ehepaars Cuocolo war. Was an diesen Behauptungen wahr und was zynisches Taktieren war, bleibt vermutlich für immer im Dunkeln. Sicher ist nur, dass Abbatemaggio niemals offiziell der Morde bezichtigt wurde.
     
    Der Prozess in Viterbo sollte sich noch ein ganzes Jahr hinziehen, nachdem Hauptmann Fabroni sämtliche Beweismittel vorgebracht hatte. In den darauffolgenden Monaten wurden die Angeklagten und viele der Zeugen immer wieder aufgerufen, weitere Fragen zu beantworten. Doch hatte bereits eine entscheidende Verlagerung in der Beweislast stattgefunden. Mit all seinen Unwägbarkeiten war der Cuocolo-Fall mittlerweile zum schlichten Wettstreit um Glaubwürdigkeit geworden: Entweder waren die Angeklagten schuldig oder die Carabinieri Verleumder. Auf der einen Seite gab es einen Käfig voller narbengesichtiger Schurken, die widersprüchliche Aussagen machten. Auf der anderen Seite standen Hauptmann Fabroni und Feldwebel Capezzuti. Zugegeben, die beiden Carabinieri waren ihrem »Sherlock-Holmes«-Image nicht ganz gerecht geworden. Dennoch mochte man nicht glauben, dass sie aus purer Hinterlist den gesamten Strafprozess erfunden haben könnten.
    Der seltsame Tod der Ehrenwerten Gesellschaft
    Kurz nach 17  Uhr  30 am 8 . Juli 1912 wurden die 41  Angeklagten wieder in den überfüllten Gerichtssaal in Viterbo gerufen, um ihr Schicksal zu erfahren. Die meisten regten sich nicht, waren wie gelähmt vor Sorge. Ihr Nervenzustand war verständlich, da das aufwendige Verfahren seinem Höhepunkt entgegenstrebte: In 16 erschöpfenden Monaten waren bei den Anhörungen 779  Zeugen befragt worden.
    Endlich erschien im Käfig der Angeklagten die vertraute hagere Gestalt Erricones, diesmal allein. Er blickte um sich. Die spannungsgeladene Stille wurde nur von dem verhaltenen Schluchzen zerrissen, das einer der Verteidiger von sich gab. Erricone sah, hörte und begriff, wie das Urteil ausgefallen war. Er richtete ein schrilles, keckerndes Lachen an die erhöhte Geschworenenbank und schrie:
    »Ihr habt uns für schuldig befunden. Wir sind also Mörder? Ihr habt Recht gesprochen, warum blickt ihr dann zu Boden? Warum seht ihr mir nicht ins Gesicht?
Wir
sind die Ermordeten! Und
ihr
seid die Mörder!«
    Weitere Angeklagte stürmten den Käfig, appellierten entrüstet an die Einsicht der Geschworenen und der Öffentlichkeit, brüllten auf Abbatemaggio ein. Plötzlich spritzte in hohem Bogen Blut auf den Marmorboden. Der »Kuhhirte« hatte sich mit einer Glasscherbe die Kehle aufgeschlitzt. Ärzte eilten hinzu, um ihn zu retten, und die Wachsoldaten trugen ihn fort, damit er sich erholen konnte.
    Die Angeklagten gaben nacheinander ihren Protest auf und sanken weinend auf ihre Bänke nieder. Der Lauteste und Wütendste von allen, der »Lehrer«, tobte am längsten. Als auch er endlich erschöpft war, verlas der Urkundsbeamte die Schuldsprüche. Das Gericht verurteilte die Angeklagten, unter anderem wegen Mordes und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, zu insgesamt mehr als vier Jahrhunderten Gefängnis.
     
    Ein gnadenloser Kreuzzug für die Gerechtigkeit? Oder ein krasser Machtmissbrauch seitens des Staates? Nach dem Cuocolo-Prozess gingen die Meinungen darüber auseinander. Sein Resultat war zweifellos ein Schlag gegen die Camorra. Der Haken war nur, dass dieses wünschenswerte Ergebnis mit allzu komplizierten, chaotischen und möglicherweise sogar dubiosen Mitteln erreicht worden war. Die Cuocolo-Morde gaben dem italienischen Staat eine einmalige Gelegenheit, seinen Kampf gegen das organisierte Verbrechen einer breiten Öffentlichkeit im In- und Ausland nahezubringen. Doch das Resultat war Verwirrung im Inland und Ratlosigkeit im Ausland. Berichterstatter auf der ganzen Welt beklagten den Zustand der italienischen Rechtsprechung. Die Presse in den USA kommentierte verächtlich, der Prozess sei ein »Tollhaus« gewesen, ein »Zirkus«, ein »Affenkäfig«. Selbst ein Beobachter wie Arthur Train, der große Sympathien für Italien hegte, konnte nur an das Verständnis seiner Leser appellieren. Es sei eben schwierig, Gerechtigkeit zu üben, schrieb er, wenn »ein jeder, der an der Affäre teilhat oder darin verwickelt ist, Italiener ist

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