Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
im Innenhof des Krankenhauses, wo (laut Presse) der amtierende Boss ihnen je nach Rang ihre Positionen im Leichenzug zuwies: zuerst die älteren Camorristi; dann die
picciotti
; und zum Schluss, große Kränze schleppend, die »Ehrenwerten Burschen«. Vincenzo Serras Begräbnis sollte zum feierlichen Sittengemälde einer strukturierten kriminellen Vereinigung werden.
Doch es kam nicht dazu. Die Carabinieri verriegelten kurzerhand die Tür des Krankenhauses und schlossen die Gangster im Innenhof ein, von wo aus sie auf einen Lastwagen getrieben und ins Gefängnis transportiert werden konnten.
Major Anceschi machte es gleichsam zu seiner Spezialität, Camorrabegräbnisse zu stürmen, eine gefährliche Taktik: Seine Gendarmen erhielten regelmäßig Todesdrohungen. Sie mischten sich in Zivilkleidung unter die Menge, während Anceschi ihren Einsatz von einem nicht gekennzeichneten Wagen aus überwachte, der in der Nähe geparkt war. Er hatte ihn unter Strom setzen lassen, damit, wer unaufgefordert einzudringen versuchte, einen Stromschlag erhielt. Doch das Risiko solcher Operationen lohnte sich. Natürlich waren die Verhaftungen wichtig. Noch wichtiger aber war die Möglichkeit, eine Machtdemonstration der Camorra in eine Machtdemonstration der Staatsgewalt zu verwandeln.
Was diese Berichte veranschaulichen, ist die Tatsache, dass 15 Jahre, nachdem die Camorra infolge des Cuocolo-Prozesses im Stadtgebiet von Neapel ausgestorben war, ihre Strukturen und Traditionen auf dem Land nach wie vor Bestand hatten. Anceschi zufolge verfügte die Camorra in den Mazzoni über ein starres, hierarchisch strukturiertes und auf Omertà basierendes System. Das Land um Aversa und Nola, nicht weit von Neapel, war tagtäglich Anziehungspunkt für die Ganoven der Stadt, die mit denen auf dem Land enge Kontakte pflegten. Die Provinz war offenbar zu einer Art Lebenserhaltungssystem für das organisierte Verbrechen der Hauptstadt geworden.
Anceschi und seine Männer entdeckten nicht weniger als 20 Verbrechervereinigungen und stellten in 18 Verfahren 494 Männer vor Gericht, doch Historiker haben bisher nur wenige Seiten der daraus resultierenden Prozessakten aufgespürt. Bevor die Archive nicht weitere Geheimnisse preisgeben, können wir nicht wissen, welche kriminellen Vereinigungen genau in den Mazzoni aktiv waren und welche Auswirkungen die »moralische Trockenlegung« durch die Faschisten im Einzelnen hatte. Sicher ist jedoch, dass nach den 1920 er Jahren im Umland von Neapel keine Ehrenwerte Gesellschaft mehr ihre Spuren hinterließ.
Man muss es Major Anceschi hoch anrechnen, dass er dem Bericht an das Oberkommando der Carabinieri im Mai 1928 eine stolze, aber sachliche Einschätzung seiner Arbeit beifügte. Die Straßen seien jetzt sicher, die Felder wieder voller Bauern, und die Bottiche mit dem Mozzarellakäse könnten zu Markte getragen werden, ohne von der Camorra gestohlen oder »besteuert« zu werden. Von Mondragone bis nach Nola sei die Ordnung wiederhergestellt – zumindest für den Augenblick. Doch Anceschi zählte einige Dinge auf, die noch geschehen mussten, bevor endgültig Friede einkehren konnte in diesem unruhigen Landstrich: Der Sondereinsatz der Polizei müsse fortgesetzt werden. In den »ungesunden, unheimlichen Mazzoni-Sümpfen« müsse für Bildung gesorgt, Land urbar gemacht und der Straßenbau vorangetrieben werden. Und vor allem – und dies war die unangenehmste Nachricht für den faschistischen Staat – müsse das Personal nicht nur innerhalb der Staatsverwaltung, sondern auch innerhalb der Faschistischen Partei weitaus sorgfältiger überprüft werden. Anceschi hatte im Zuge seiner Einsätze etliche korrupte Beamte überführt, die versucht hatten, die Staatsanwaltschaft zugunsten der Camorristi zu beeinflussen und die zudem in finstere Machenschaften mit den Freimaurern verstrickt waren. Der Bericht endete mit einem schroffen Imperativ: »Verhindern Sie die Unterwanderung der Politik durch Gönner des organisierten Verbrechens!«
Trotz Major Anceschis Warnung entschied Mussolini Ende der 1920 er Jahre, dass die Camorra genau wie die Mafia endgültig zerschlagen war. Er entschied außerdem, dass er damit auch die Südfrage – also den Skandal um Rückständigkeit, Armut und Korruption im Süden Italiens – gelöst hatte. Eine weitere öffentliche Diskussion zu diesen Themen wäre sinnlos. So sinnlos, dass sie verboten wurde. Zwischen 1931 und 1933 schrieb der Leiter der Pressestelle des Duce
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