Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
beobachtet, wie ein Mädchen aus dem Ort verführt und anschließend von ihrem
innamorato
fallen gelassen wird, woraufhin er sich den Schurken vorknöpft und ihn zwingt, seine Pflicht zu tun. Je öfter solche Geschichten erzählt wurden, desto mehr erhärteten sie sich zu einem Gemälde, das nicht mehr das mindeste mit der Realität zu tun hatte und für Gegenbeweise unempfindlich war. Was Camorraehre nämlich wirklich für die Frauen bedeutete, waren Zuhälterei, Prügel und entstellende Narben.
Als die Camorristi der Ehrenwerten Gesellschaft verschwunden waren, übertrug sich die Aura der »achtenswerten Männer« auf die
guappi
. Ein
guappo
war ein Straßenboss. Zwar fehlte es ihm sowohl an der formellen Investitur einer Mitgliedschaft in der Ehrenwerten Gesellschaft als auch an Kontakten zu einer Bruderschaft außerhalb seines winzigen Lehens. Dennoch hielt sich der typische
guappo
mit denselben Geschäften über Wasser wie der typische Camorrista, nämlich mit Schmuggel, Wucher, Zuhälterei, Hehlerei und natürlich dem Handel mit Wählerstimmen. Viele
guappi
waren ehemalige Camorristi oder deren Söhne.
Doch um die tatsächlichen Vorfahren der Kokainbarone, Bauspekulanten und politischen Drahtzieher zu identifizieren, aus denen die heutige Camorra besteht, müssen wir kurz in die Zeit des Cuocolo-Prozesses zurückkehren; vor allem müssen wir Neapel verlassen und eine völlig andere kriminelle Landschaft erkunden.
Am 4 . August 1911 , auf der von Obstbäumen gesäumten Straße, die aus der Stadt Nola hinausführte, etwa 30 Kilometer nordöstlich von Neapel, gerieten zwei Juweliere, Vater und Sohn, in einen Hinterhalt bewaffneter Räuber. Es kam zum Handgemenge, da der Vater sich weigerte, den Schmuck herauszurücken, den er bei sich trug. Die Angreifer reagierten, indem sie dem Sohn mehrmals ins Gesicht schossen, woraufhin der Alte vor Entsetzen die Besinnung verlor. Normalerweise hätte in Neapel ein solches Verbrechen nicht viel Aufmerksamkeit erregt. Doch da der Cuocolo-Prozess das Interesse des Volkes an Camorrageschichten geweckt hatte, begaben sich Journalisten hinaus aufs Land, um über das Ereignis zu berichten. Nola beherbergte schließlich den Viehmarkt, auf dem Erricone die Maulesel bezogen hatte, die er der britischen Armee verkauft hatte.
Sogar die abgeklärten Zeitungsmenschen des
Mattino
waren entsetzt von den Zuständen, die sie dort vorfanden: »eine Schreckensherrschaft, eine Art Kriegsrecht«. Das Gebiet rings um Nola wies all die verräterischen Spuren einer eingewurzelten kriminellen Vereinigung auf: eine hohe Dunkelziffer ungelöster Verbrechen (Zeugen und Opfer wurden eingeschüchtert); umgeschnittene Weinreben und gefällte Obstbäume (ein Hinweis auf erpresserische Forderungen). Bürgermeister, die sich gegen die Macht der Bosse zur Wehr setzten, wurden zusammengeschlagen. Einem Priester waren beide Arme gebrochen worden, weil er nicht kooperieren wollte. Wer Anzeige erstattete, lief Gefahr, dass seine Frau oder Tochter entführt oder sein Haus in die Luft gesprengt wurde. Banditen, Gewehre über der Schulter, patrouillierten ungeniert auf den Straßen. Und laut Aussage der Polizei stand hinter alledem eine Organisation, die nur 100 bis 150 Männer umfasste; diese setzte sich aus einzelnen Banden zusammen, deren Mitglieder die Beute aus ihren Verbrechen zu gleichen Teilen untereinander aufteilten.
Trotz dieser beängstigenden Details kratzte die Enthüllung des
Mattino
nur an der Oberfläche. Gangster unterwanderten die Felder und Marktflecken im Umland von Neapel und die Versorgungswege in die Stadt. Camorristi waren entlang der Küste in Castellammare und Salerno aktiv, ebenso in Nocera, Sarno und Palma Campania jenseits des Vesuvs. Doch am schlimmsten war das Problem nördlich von Neapel, in einem äußerst produktiven Landstrich, der fast jedes Produkt auf dem Speiseplan der Neapolitaner hervorbrachte. Er erstreckte sich vom Viehzentrum Nola im Osten über die Stadt Acerra, die besonders bekannt war für ihre weißen Bohnen und für die Aale, die in ihren Wasserläufen gediehen, bis zu den Pfirsichgärten rings um Giugliano, dann weiter nach Marano mit seinen Erbsen und schließlich die Küste hinauf nach Mondragone, das für seine Zwiebeln, Endivien- und Chicoréestauden bekannt war. Um Neapel herum betätigten sich die einheimischen Bauern, Aufseher, Metzger, Kutscher, Makler und Spekulanten im Nebenerwerb noch als Erpresser, Vandalen, Betrüger, Schmuggler, bewaffnete
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