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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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ihre Zuhälter zu akzeptieren. Bereits 1890 verhängte ein Richter in Reggio Calabria schwere Strafen gegen eine Gruppe von
picciotti
und fegte damit die Versuche des Verteidigers vom Tisch, die Aussagen von vier Prostituierten zu diskreditieren: »Es hat keinen Sinn, die Äußerungen dieser unglücklichen Frauen in Zweifel zu ziehen – ihr abstoßendes Gewerbe vermochte ihren Persönlichkeiten nichts anzuhaben. Sie sind die Wahrhaftigkeit selbst.« Die Gewohnheit, mit Prostituierten Geld zu verdienen, ebenso wie die Methode, junge Burschen mit Gewalt dem Initiationsritual zu unterziehen, waren strukturelle Schwächen der
Picciotteria
, die über kurz oder lang dafür sorgen mussten, dass sich Kronzeugen finden würden.
    Andernorts waren jedoch in den Jahren des Faschismus deutliche Anzeichen für einen Wandel zu spüren, was die Rolle der Frau anbelangte. Es gab weniger Prostituierte, und auch die weiblichen Ganoven, die Gewehre schulterten, verschwanden von der Bildfläche. Stattdessen war eine schlauere Geschlechterpolitik im Kommen. Und mit ihr ein neuer Typus der kalabrischen Mafiafrau. Keine Hure. Auch keine Brigantin in Männerkleidern. Stattdessen eine Mutter und Ehefrau, die ihre nährende Kraft einzig und allein der Ehre ihrer männlichen Angehörigen widmete, der jungen wie der alten.
    Es wird häufig angenommen, dass die starke Familienzentriertheit der ’Ndrangheta einem »Familienkult« innerhalb der kalabrischen Gesellschaft geschuldet sei. Die verfügbaren Beweise jedoch widerlegen dies. Die ’Ndrangheta musste erst
lernen
, auf Familienbande zu vertrauen. Die vermeintlich traditionelle Rolle der ’Ndrangheta-Frauen – häusliche Priesterinnen des Ehrenkults – ist in Wahrheit eine moderne Erfindung.
    Doch selbst als diese neue Vorzeige-
mafiosa
während des Faschismus zum ersten Mal in den Prozessakten auftauchte, konnte sie hinter den Kulissen des
Picciotteria
-Alltags das Regiment führen. Maria Marvelli war so eine »kluge, starke und umsichtige Frau«, um erneut die Worte eines Richters zu zitieren. Sie war über sämtliche Vorgänge innerhalb der Ehrenwerten Gesellschaft genauestens im Bilde. Allerdings vermochte nicht einmal sie ihren Ehemann vor einem grausamen Tod zu bewahren, konnte jedoch Vergeltung üben. Die folgende Geschichte sickerte durch die Nachrichtensperre des Faschismus und basiert größtenteils auf Maria Marvellis eigener Aussage, in der sie die Rolle dramatisierte, die Frauen bei der Verbreitung der
Picciotteria
spielten. Und zufällig offenbart Maria Marvellis Geschichte auch die brutalste Seite der faschistischen Gegenmaßnahmen.
    Südwestlich von Antonimina, dem Heimatort des fliegenden Bosses, klammerte sich Cirella an die Flanken des Aspromonte. Cirella war ein kleines, entlegenes Dorf in einem unwirtlichen Gelände; ohne befahrbare Straßen war es den Naturgewalten ausgeliefert und wurde von den Ordnungshütern praktisch ignoriert.
    Die Mitglieder von Cirellas Ehrenwerter Gesellschaft taten, was von ihnen zu erwarten war: Sie stahlen, randalierten, vergewaltigten, verstümmelten und mordeten. Doch sie bedienten sich auch anderer Formen von Gewalt. Bemerkenswerterweise hatten sie den örtlichen Priester aus dem Amt gedrängt: Jetzt gestalteten anstelle des Geistlichen Kriminelle die kirchlichen Feste in Cirella. Wer mit den
picciotti
vor Ort Geschäfte machen oder eine ihrer Frauen heiraten wollte, musste als Vorbedingung ihrer Vereinigung beitreten.
    Paolo Agostino gehörte zu den einflussreichsten Männern in Cirellas Ehrenwerter Gesellschaft. Wie ein Richter später feststellen würde, galt er als besonders brutal, selbst unter Verbrechern.
    »Er war einer dieser Männer, die nicht nur über einen robusten, kräftigen Körper, sondern auch über einen kühnen Verstand, eine seltene sadistische Ader, eine starke Neigung zu gewalttätigen Ausbrüchen sowie den erforderlichen Mut verfügten, all diesen Eigenschaften Rechnung zu tragen.«
    Paolo Agostino besaß eine weitere Qualität, von der der Richter nichts ahnte, eine Qualität, die für erfolgreiche kalabrische Bosse immer wichtiger wurde: Er hatte ein scharfes Auge für kluge Frauen. Wer in Cirella, wie anderswo in Kalabrien, das Initiationsritual der Mafia durchlief, musste schwören, »die Interessen der Gesellschaft über jene der Eltern, Geschwister und Kinder zu stellen«. Doch allmählich begriffen auch die kalabrischen Gangster, dass die Familie gewisse Vorteile mit sich brachte. Paolo Agostino hatte

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