Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
sich eine außerordentlich gute Ehefrau ausgesucht: die »schlaue, starke und umsichtige« Maria Marvelli.
Maria Marvelli war bereits verheiratet gewesen und Witwe. (Wie die meisten italienischen Frauen damals wie heute hatte sie ihren Mädchennamen beibehalten.) Ihren Sohn aus erster Ehe, Francesco Polito, brachte sie in die neue Verbindung mit dem »robusten und resoluten« Paolo Agostino. Wenn man dem Richter glauben darf, herrschte im Hause Agostino keine Gleichberechtigung, zumindest nicht innerhalb der vier Wände. Maria führte offensichtlich ein »strenges Regiment über ihren Mann und ihren Sohn. Und die beiden gehorchten ihr, ohne zu murren.« Paolo Agostino erhielt als Gegenleistung einen wohlhabenden Erben: Francesco Polito hatte von seinem verstorbenen Vater einen Besitz im Wert von 100 000 Lire geerbt.
Die Ehe scheint glücklich gewesen zu sein, und Maria gebar weitere Kinder. Überdies wurde Francesco Polito, sobald er alt genug war, in die Ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen, wie es sich für den Stiefsohn eines hochrangigen Gangsters gehörte. Doch seine Mutter, schlau und misstrauisch, wie sie war, wollte ihm nicht erlauben, selbst über sein Geld zu verfügen. So musste er seinem Großvater, um die Aufnahmegebühr bezahlen zu können, 24 Flaschen Olivenöl stehlen.
Mit seinem Geld und dem mächtigen Stiefvater war Francesco Polito zweifellos eine gute Partie auf dem Heiratsmarkt der Mafia. Schon bald bot ihm kein Geringerer als der Boss der Ehrenwerten Gesellschaft in Cirella die Hand seiner Tochter an, dazu eine Beförderung vom
picciotto
zum Camorrista. Eine Ehe mit der Tochter des
capo
und dazu noch ein höherer Rang war ein verlockendes Angebot. Doch Paolo Agostino, der Stiefvater des jungen Francesco, sprach sich gegen die Verbindung aus. Warum er sich so verhielt, und ob Maria Marvelli seine Entscheidung beeinflusst hatte, ist ungewiss. Am naheliegendsten ist die Vermutung, dass er sich lieber mit einer anderen Verbrecherlinie verschwägern wollte. Doch ein solches Angebot auszuschlagen, kam verständlicherweise einer Brüskierung gleich. Während in den Reihen der Ehrenwerten Gesellschaft von Cirella zuvor alle Mitglieder an einem Strang gezogen hatten, gab es nun plötzlich Spannungen.
Zu diesem Zeitpunkt trat Mussolini auf den Plan. Der desolate Zustand der öffentlichen Ordnung in Cirella kam 1933 den Behörden zu Ohren. Und so wurde der örtliche Boss – ein jeder wusste, dass er der Boss war, wozu es also leugnen? – inhaftiert und in die kleine Strafkolonie auf der Insel Ustica verbannt, etwa 80 Kilometer nördlich von Palermo. Doch wie so oft reichte diese Maßnahme nicht aus, um die Fluten der Gewalt einzudämmen. Im darauffolgenden Jahr wurde daher Paolo Agostino ebenfalls nach Ustica verbannt, um seinem
capo
Gesellschaft zu leisten – dessen großzügiges Verschwägerungsangebot er zurückgewiesen hatte. Bald drang das Gerücht nach Cirella, die beiden seien sich begegnet und Paolo Agostino habe seinem Boss eine Flasche über den Schädel gezogen. Obwohl das Gerede vermutlich nicht der Wahrheit entsprach, war es doch ein sehr deutliches Zeichen für das Schwelen eines hochexplosiven Machtkampfes: Die Frage, welches Mädchen Maria Marvellis Sohn heiraten würde, blieb in Cirella eine offene Wunde.
Nach kurzer Zeit kamen erneut Gerüchte auf, doch diesmal in der Strafkolonie auf Ustica, und es ging dabei um einen Treuebruch. Bevor der »robuste und resolute« Paolo Agostino nach Ustica aufgebrochen war, hatte er seine Angelegenheiten einem vertrauenswürdigen Stellvertreter übertragen, Nicola Pollifroni. Pollifroni pflegte schon bald engen Kontakt mit Agostinos Ehefrau Maria Marvelli – so eng, dass einige Leute hämisch grinsten: Die beiden hatten angeblich zu zweit auf einem Pferd gesessen, und er war auf ihrem Schoß gesehen worden. Der Richter würde später einigermaßen spröde einräumen, das Gerede sei »nicht ganz unbegründet« gewesen. Als Paolo Agostino auf Ustica davon Wind bekam, stellte er eigene Nachforschungen an. Seltsamerweise bestätigten ihm zwei Zeugen – einer davon sein eigener Bruder – unabhängig voneinander, dass alles in Ordnung sei. Noch seltsamer war, dass er ihnen glaubte.
Paolo Agostinos entspannte Reaktion auf die vorgebliche Untreue seiner Frau widerspricht sämtlichen Klischees von der besitzergreifenden Gewalttätigkeit süditalienischer Männer. Und sie verstößt gegen die Verhaltensnormen unter Gangstern. Normalerweise
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