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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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genügte allein das Gerücht von ehelicher Untreue, um das Schicksal eines Mafioso zu besiegeln. Doch Paolo Agostino wischte den Verdacht gegen seine Frau, der doch zumindest »nicht ganz unbegründet« war, ganz einfach beiseite. Eine mögliche Erklärung für Agostinos Verhalten war vermutlich die Tatsache, dass Maria Marvelli als Gefährtin und Mitwisserin einfach zu wertvoll für ihn war. Angesichts der Spannungen, die die
’ndrina
zu zerreißen drohten, musste er den inneren Zusammenhalt sichern und hatte keine andere Wahl, als über die Affäre hinwegzusehen. Der Ehrbegriff der Mafia war also wie immer dehnbar.
    Während Paolo Agostino sich mit seinem Boss in der Strafkolonie auf Ustica befand – der eine kaute an der vorgeblichen Untreue seiner Frau, der andere an der Frage, warum seine Tochter abgewiesen worden war –, änderten sich daheim in Cirella die Machtverhältnisse innerhalb der Ehrenwerten Gesellschaft. Jetzt hatten die drei Romeo-Brüder Bruno, Rocco und Francescantonio das Sagen. Diese beschlossen, ihre frisch errungene Autorität hinter einer Galionsfigur zu verstecken. Sie begaben sich also auf die Suche nach einem neuen Boss, einem Strohmann, der keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und nicht sonderlich sichtbar sein sollte.
    Die Sichtbarkeit ist eines der großen Themen in der Geschichte des organisierten Verbrechens in Italien. Die absolute Unsichtbarkeit, die absolute Anonymität ist keine Option für Mafiosi, deren Ziel es ist, ihr Revier zu kontrollieren. Sie müssen die Leute vor Ort in irgendeiner Weise darüber in Kenntnis setzen, dass
sie
es sind, die man zu fürchten hat, dass
sie
es sind, die Schutzgeld kassieren. Doch gibt es tausend Möglichkeiten, sich ein Profil zu erarbeiten, sich Respekt zu verschaffen. Ein Gangster kann, gleich einem Tier, das sein Revier durch grelle Farbigkeit verteidigt, eine Menge Energie sparen, indem er leicht zu erkennen ist: Potentielle Rivalen lernen schnell, die Gefahrenzeichen zu erkennen, und sie lernen auch, dass nicht der Kampf, sondern die Flucht die klügere Reaktion ist. Deshalb demonstrierten die frühen Camorristi ihre Macht mit extravaganten Frisuren, Schlaghosen und Tattoos. Desgleichen ihre Vettern in der kalabrischen
Picciotteria
. Natürlich birgt die Sichtbarkeit auch gewisse Risiken – vor allem, wenn die Polizei gerade in der Stimmung ist, die Mafia auszumerzen, anstatt sich mit ihr zu arrangieren. Den eigenen kriminellen Rang und die erworbenen Ruhmeszeichen im Kerker vor sich herzutragen, wo sich ohnehin nur Gauner befinden, oder in den Mafiavierteln von Neapels Unterstadt oder in irgendeinem gottverlassenen kalabrischen Bergkaff, ist das eine. Ganz anders verhält es sich, wenn einer ins Visier der Carabinieri gerät, Ellis Island passieren will, oder wenn die Geschäfte mit Politikern und Unternehmern ein eher unauffälliges Äußeres verlangen. Siziliens »Mittelschicht-Ganoven« tendierten schon immer dazu, sich unauffällig zu kleiden und ihre Autorität mit kaum mehr als einem Blick, einer Körperhaltung oder eisigem Schweigen geltend zu machen. Die anderen kriminellen Vereinigungen, bescheideneren Ursprungs, brauchten eine Weile, bis sie diese subtileren Zeichen beherrschten. Der Lernprozess war seit längerem im Gange, als die faschistische Ära heraufdämmerte. In Neapel waren die albernen Hosen und die Schmetterlingstollen zum Zeitpunkt des Cuocolo-Prozesses bereits verschwunden. Bald darauf verzichtete auch die kalabrische Mafia darauf: Während der faschistischen Ära waren kaum noch Spuren davon übrig.
    Da die Polizei ihnen plötzlich mehr Aufmerksamkeit schenkte, als ihnen lieb war, hielten die Romeo-Brüder Ausschau nach einer neuen, weniger sichtbaren Galionsfigur, möglichst unbescholten und so vermögend, dass sie über jeden Verdacht erhaben war. Ihre Wahl fiel auf einen jungen Mann namens Francesco Macrì, der ohne Zögern zusagte, obwohl er nicht einmal Mitglied der Bande war und obendrein reich genug, um seinen neuen Mitverschwörern Anwälte zu verschaffen. Der Richter sagte später, Macrì habe es als eine besondere Ehre empfunden, zum Boss ernannt zu werden. Dass Macrì so bereitwillig den
capo
spielte, sagt einiges aus über das Ansehen, das die kriminelle Vereinigung inzwischen genoss. »Der Beitritt zur Vereinigung«, so der Richter, »galt als wesentliche Voraussetzung, um in der Gesellschaft anerkannt zu werden.« Die
Picciotteria
, weniger sichtbar als früher, dafür ungleich bösartiger,

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