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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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wichtigste Einfuhrhafen für die gewaltige Menge an Versorgungsgütern, die von den vorrückenden Truppen der Alliierten benötigt wurden. Diese Warenflut war zugleich Fluch und Segen. Bis zum April 1944 waren erstaunliche 45  Prozent der Vorräte gestohlen worden. Das industrielle Ausmaß des Diebstahls lässt sich nur durch Korruption bei der AMGOT und den angloamerikanischen Streitkräften erklären. Im September 1944 berichtete die PWB , dass Soldaten der Alliierten ungeniert Warenpakete auf den Markt transportiert hätten, während die Militärpolizei untätig zugesehen habe. Die Verbände der italienischen Polizei und der Carabinieri, die der AMGOT unterstellt waren, konnten ihre Handlungsweise zumindest mit der Begründung rechtfertigen, ebenso hungrig zu sein wie die übrige Bevölkerung. Doch liefen sie genau wie ihre britischen und amerikanischen Vorgesetzten Gefahr, als bestechlich zu gelten. Im Mai 1944 sagte die PWB , dass pro Lastwagenladung, die vom Hafen verschwand, ein Anteil von 20 000 bis 30 000  Lire für die Polizisten abfiel. Die Neapolitaner wussten die Vorzüge amerikanischer und kanadischer Armeedecken sowie britischer und französischer Soldatenstiefel zu schätzen. Außerdem wurde so viel Penicillin verschoben, dass für die Soldaten an der Front bald keines mehr verfügbar war.
    Die sichtbarsten Verkaufsstellen für Diebesgut befanden sich in der Via Forcella, in der Nähe eines amerikanischen Militärdepots. Die Straße wurde zu einem multinationalen Freiluftbazar für überzählige Versorgungsgüter, wo es alles zu kaufen gab, was ursprünglich für die alliierten Streitkräfte gedacht war. Und »alles« beinhaltete angeblich auch Waffen, vorausgesetzt, man wusste, an wen man sich zu wenden hatte.
    Die Via Forcella führt durch das beengte Herz der Innenstadt, nur wenige Meter vom alten Palazzo della Vicaria entfernt, dem ehemaligen Gefängnis und Gerichtshof, in dem am 3 . Oktober 1862 Salvatore De Crescenzo, der Unterweltboss, dem in den Tagen der Einigung Italiens »die Absolution erteilt« worden war, seinen Rivalen hatte erstechen lassen und der dann zum Oberhaupt der Ehrenwerten Gesellschaft Neapels aufgestiegen war. 81  Jahre später, unter der AMGOT , waren die Giuliano-Brüder Pio Vittorio, Guglielmo und Salvatore die
guappi
, die in der Via Forcella das Sagen hatten. Noch heute kann der Familienname Giuliano nur eines bedeuten: Camorra.
    In den nachfolgenden Jahrzehnten sollten neue Clans wie die Giulianos die Erfahrung nutzen, die sie dank der chaotischen Zustände während der Befreiungszeit gesammelt hatten, und neue Antworten auf die Herausforderungen finden, an denen die alte Ehrenwerte Gesellschaft Salvatore De Crescenzos, Ciccio Cappuccios und Enrico Alfanos letztlich gescheitert war: wie man eine straffe, möglichst weit vernetzte Organisation schuf. Wie man Wirtschaft und Politik unterwanderte. Wie man sich Polizei und Justiz gefügig machte. Wie man Frauen in Schach hielt und ausbeutete, wie man Söhne und sogar Töchter mit ihnen zeugte, die das mächtige System aufrechterhielten. Wie man, mit all diesen Mitteln, blanke Kriminalität in eine bleibende Territorialmacht umwandelte. 1943 war die Stunde null für Recht und Gesetz in Neapel. Die Befreiung durch die Alliierten war gleichsam der Neustart für die Geschichte der Camorra.
     
    Das organisierte Verbrechen ist Italiens Erbkrankheit. Die Ehrenwerten Gesellschaften Neapels und Siziliens entstanden aus dem Gefängnissystem um die Mitte des 19 . Jahrhunderts. Die Gewalttätigkeit und die Ränkespiele um die Einigung Italiens ebneten den Ganoven den Weg aus den Verliesen in die Geschichte.
    Das Vermächtnis des Risorgimento war in einigen Landstrichen Süditaliens und Siziliens eine raffinierte, mächtige kriminelle Organisation mit Vorbildcharakter. Die Mitglieder dieser Geheimbünde übten aus dreierlei strategischen Gründen Gewalt aus: erstens, um andere Schurken in Schach zu halten und deren Geld, Wissen und Können für sich zu nutzen. Zweitens, um die legale Wirtschaft auszusaugen. Und drittens, um Kontakte zur gesellschaftlichen Elite herzustellen – den Grundbesitzern, Politikern und Richtern. Im Umland von Palermo pflegte die Mafia, von der Revolutionsgeschichte auf der Insel vorangetrieben, nicht nur Kontakte zur Oberschicht, sondern verschmolz gleichsam mit ihr.
    Das neue Königreich Italien versäumte es, sich diesem Vermächtnis zu stellen, beging sogar den Fehler, seine Souveränität mit den

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