Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
örtlichen Bossen zu teilen. Auf diese Weise konnte sich ein kriminelles Ökosystem entwickeln. Italien träumte vom modernen Staat, verfügte jedoch, um ihn zu verwirklichen, noch nicht über die Ressourcen seiner wohlhabenderen Nachbarn, sondern litt stattdessen unter angeborenen Nachteilen. Politische Zersplitterung und Instabilität waren die Folge: Seine Institutionen entwickelten Strategien, wie man, anstatt kollektive Probleme zu lösen, mit taktischen Vorteilen und kurzlebigen Gefälligkeiten schacherte. Es war ein politisches System, das allzu oft den übelsten Interessengruppen im Land, die das organisierte Verbrechen deckten, Vorteile verschaffte. Vor entscheidenden Wahlen bediente die Regierung sich zuweilen der Gangster, um zu gewährleisten, dass die Mehrheit der Stimmen an die richtigen Kandidaten ging. Das Parlament brachte schlechte Gesetze auf den Weg, die selektiv durchgedrückt wurden. Ein maßgebliches Beispiel dafür ist die gängige Praxis, Mitglieder der Mafia und der Camorra mittels sogenannter »Zwangsexile« in Schach zu halten. Dringend notwendige Reformen wurden dagegen niemals umgesetzt: Ein Beispiel wäre das rechtliche Vakuum um Leute wie Calogero Gambino (vom »Brudermord«-Fall aus den 1870 er Jahren) und Gennaro Abbatemaggio (vom Cuocolo-Prozess zu Beginn des 20 . Jahrhunderts) – Mafiosi und Camorristi, die ihrer Organisation den Rücken kehrten, um beim Staat Zuflucht zu nehmen. In Italien gab es außerdem genügend faule, zynische Journalisten, verbohrte Intellektuelle und moralisch abgestumpfte Schriftsteller, die den Notstand vertuschten und stattdessen der perversen Ideologie der Verbrecher Stimme und Glaubwürdigkeit verliehen und ihnen schmeichelhafte Spiegelbilder in gedruckter Form boten.
Das kriminelle Ökosystem brachte eine neue Ehrenwerte Gesellschaft hervor, die
Picciotteria
, die den Entwicklungsweg ihrer älteren Verwandten fortsetzte: In den 1880 er Jahren verließ sie die Gefängnisse, um sich in der Freiheit ein Revier zu erobern.
Doch die Tatsache, dass Italien ein kriminelles Ökosystem beherbergte, soll nicht etwa heißen, dass das Land von Ganoven regiert wurde. Italien war zu keiner Zeit ein gescheiterter Staat, ein Mafiaregime. Dass die Mafiaorganisationen Süditaliens und Siziliens eine so lange Geschichte haben, ist keineswegs mit ihrer Allmacht zu begründen, nicht einmal in ihren Kerngebieten. Die Rechtsstaatlichkeit war keine leere Worthülse auf der Halbinsel, und Italien hat die Mafia sehr wohl bekämpft. Das Gesetz der Omertà wurde oftmals gebrochen. Manchmal bröckelte auch die Gebietshoheit der Mafia, und es kehrte der
spirito pubblico
zurück, der »Gemeingeist«, den tüchtige Polizisten vom Kaliber eines Ermanno Sangiorgi beschworen: das Vertrauen der Menschen in den Staat und dessen Vermögen, den herrschenden Regeln Gültigkeit zu verschaffen. In solchen Momenten blitzte der Hunger des Volkes nach Rechtsstaatlichkeit auf, und man konnte erahnen, was hätte erreicht werden können, wäre die Mafia nur konsequenter bekämpft worden.
Doch leider währte Italiens Feldzug gegen die Geheimbünde immer nur so lange, wie deren unverhohlene Gewalt die Politiker dazu bewog, ihn ganz oben auf ihre Agenda zu setzen, oder bis die reichen, mächtigen Beschützer der Mafia ihren Einfluss geltend machten. Er währte allenfalls lange genug, um innerhalb der Gangster-Domäne die natürliche Auslese anzukurbeln. Im Laufe der Jahre wurden schwächelnde Bosse und nachteilige kriminelle Methoden ausgemerzt. Ganoven waren gezwungen, sich zu verändern und weiterzuentwickeln. Am wenigsten zu lernen hatte die sizilianische Mafia. In Neapel dagegen versäumte es die Ehrenwerte Gesellschaft, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Die kalabrische
Picciotteria
dagegen, dieses lebende Museum der traditionellen Gefängnis-Camorra, erwies sich wider Erwarten als überlebensfähig und konnte wachsen und gedeihen.
Der wichtigste Faktor im Wettstreit der Geheimgesellschaften um Vorherrschaft und Durchhaltevermögen war vermutlich der Familienzusammenhalt. Dank ihrer Verwandten konnten Mafiosi, Camorristi und
picciotti
sich in der Gesellschaft verankern, was der Hauptgrund für ihren verderblichen Einfluss war. So ist der tödliche Schaden, den die Mafiaorganisationen so vielen Familien zufügten – einschließlich ihrer eigenen – der bitterste Maßstab für das Übel, das sie angerichtet haben.
Ab 1925 pries Benito Mussolini sein Regime als Gegenpol zu den schmutzigen
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