Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Nichtstun, frönen zu können. Dass Gennaro Abbatemaggio Ende der vierziger Jahre so oft in den Zeitungen stand, war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er die Ehrenwerte Gesellschaft zerstört hatte; mit seinen tragikomischen Kapriolen schien er jedermanns Klischee eines Neapolitaners zu verkörpern. Das San Carlino galt deshalb als Attraktion, weil auch dieses Theater eine typische Besonderheit der Stadt war. Die Armen Neapels wurden als die Kobolde im Paradies betrachtet: boshaft, sentimental, naiv und so erfinderisch, dass sie sich nicht einmal scheuten, den vielen Stereotypen über sie gerecht zu werden. Vor dem Krieg pflegten sich neapolitanische Gassenjungen gegen Bezahlung dabei fotografieren zu lassen, wie sie mit den Händen Spaghetti aßen, genau so, wie es das uralte Klischee von ihnen verlangte.
Auch die Nachkriegsgeneration hatte ihre Touristen, die darauf erpicht waren, dergleichen Allgemeinplätze neu zu beleben. Der einfache Trick bestand darin, ihnen eine Stadt zu zeigen, die nur das enthielt, was dem Betrachter in den Armenvierteln wie Forcella oder Pignasecca als Erstes entgegenschlug. Eine Stadt der Bettler und Hausierer, in der durch jede Fenster- oder Türöffnung irgendeine Ware feilgeboten wurde: Kastanien oder gegrillte Fische, einzelne Zigaretten, Kaktusfeigen oder
taralli
(an Brezeln erinnerndes Salzgebäck). Das arme Neapel war gewissermaßen ein Freiluftbasar, wo Friseure und Schneider ihre Berufe auf der Straße ausübten und wo Passanten im Vorübergehen einen Blick in die ausbeuterischen Familienbetriebe werfen konnten, in denen Schuhe oder Handschuhe hergestellt wurden.
Ausländische Touristen waren freilich nicht als Einzige dafür verantwortlich, dass unentwegt die alten Klischees aufgewärmt wurden: Es gab auch immer wieder gebildete Neapolitaner, die bereitwillig das Ihre dazu beitrugen. Einer davon war Giuseppe Marotta. Er wusste genau, wie hart das Leben in Neapel sein konnte: Seine beiden Schwestern und er waren in einem der berüchtigten
bassi
– Einzimmerbehausungen, die direkt auf die Straße hinausgingen – bei einer Näherin aufgewachsen. 1926 ging er in den Norden, um in Mailand, Italiens industrieller und literarischer Hauptstadt, Schriftsteller zu werden. In den späten vierziger Jahren, nachdem er jahrelang als Lohnschreiber gearbeitet hatte, war ihm endlich der Durchbruch gelungen: Er verfasste regelmäßig Zeitungskolumnen, und die Redakteure wandten sich stets an ihn, wenn sie einen lebhaften Beitrag über irgendeinen Aspekt des neapolitanischen Lebens benötigten.
Im stereotypen Neapel, das Marotta seinen Lesern auftischte, war Gesetzlosigkeit nicht wirklich ein Vergehen, sondern eine Facette des urbanen Schauspiels. Hier lebten Taschendiebe und unendlich einfallsreiche Trickbetrüger eine pittoreske Form der Unehrlichkeit aus – eine, die aus der Not, nicht aus der Bosheit geboren war. Das Verbrechen hatte hier einen kreativen, liebenswerten Anstrich. Die Armen Neapels stahlen einem das Herz ebenso leicht, wie sie einem die Brieftasche stibitzten.
In einem Artikel des Jahres 1953 staunte Marotta über die Behendigkeit der
correntisti
– wagemutige, flinke junge Ganoven, die sich auf die Ladefläche eines vorüberfahrenden Lastwagens schwangen, um den Inhalt auf die Straße zu werfen. Dieses Vergehen hieß
la corrente
(»Strömung«), wegen des steten Flusses der gesamten Operation. Ein guter
correntista
, so Marotta, benötige eine sagenhafte Bandbreite von Fertigkeiten: die Beine eines erstklassigen Mittelstürmers, das Auge eines Matrosen, das Gehör einer Rothaut, die samtweiche Hand eines Bischofs und die eiserne Faust eines Gewichthebers – dazu hakenförmige Füße, Gummirippen und den Gleichgewichtssinn eines Jockeys. Und, um dies alles miteinander in Einklang zu bringen, das Gehirn des Dirigenten Arturo Toscanini.
Marotta bewunderte auch die Früchte der
corrente
, stand milde lächelnd vor den turmhohen Pyramiden geklauter Konservendosen im Forcella-Viertel.
Die Wahrheit hinter Marottas Stereotypen war, dass das Verbrechen in Neapel längst bedrohlich allgegenwärtig war. Die bitterarmen Bewohner dieser Gässchen, die den Betrachter so sehr bezauberten, waren nur allzu oft die ersten Opfer, wie die folgende vielsagende Begebenheit aus dem neapolitanischen Alltag uns zeigen wird.
An einem heißen Sommerabend des Jahres 1952 , gegen sechs Uhr dreißig, beschloss Antonio Quindici, ’
o Grifone
(der Greif) genannt, sich ein paar Muscheln
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