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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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zu kaufen. Er begab sich also zu einem Stand in der Via Alessandro Poerio, unweit des Bahnhofs, wo aber bereits fünf Arbeiter einer nahegelegenen Baustelle vor ihm warteten. Er verlangte, als Erster bedient zu werden, und der Muschelverkäufer gehorchte unterwürfig. Doch die Maurer, die aus einem anderen Stadtteil kamen, wussten offensichtlich nicht, mit wem sie es zu tun hatten, und protestierten lautstark. Daraufhin griff sich ’
o Grifone
das Messer des Muschelverkäufers, rammte es dem stimmgewaltigsten Maurer zweimal ins Herz und ergriff die Flucht. Die Freunde des Opfers jagten ihm nach, doch eine aufeinander eingespielte Gruppe von Komplizen stellte sich ihnen in den Weg.
’o Grifone
verschwand in einer der Seitengassen, während sein Opfer an Ort und Stelle verblutete. Der Mann hinterließ Frau und Kind.
    Die Geschichte des
Grifone
ist aus mehreren Gründen interessant. Erstens weil der Mörder einer jener
correntisti
war, die Giuseppe Marotta so sehr bewunderte. Männer wie
’o Grifone
hatten sich ihre Fertigkeiten während des Krieges zugelegt, als Neapel der zentrale Versorgungshafen für die alliierten Streitkräfte in Italien gewesen war: Etwa die Hälfte der Versorgungsgüter verschwand von den Ladeflächen der Militärlastwagen und landete auf dem Schwarzmarkt. Die überfüllten Gassen um die Via Forcella herum, aus denen ’
o Grifone
stammte, waren während des Krieges das Zentrum für den Handel mit gestohlenen Armeegütern gewesen: Nicht umsonst galt Forcella als die Kasba von Neapel. Bezeichnenderweise war das Viertel auch einmal die Hochburg der Ehrenwerten Gesellschaft gewesen: Die damaligen Bosse entstammten ausnahmslos dieser Gegend.
Correntisti
wie
’o Grifone
wurden die Protagonisten der neu erstandenen Camorra.
    Als der Krieg zu Ende war, glaubten alle zuversichtlich, dass auch die
correntisti
verschwinden würden. Doch 1952 waren sie noch immer sehr aktiv, wie eine Zeitung kommentierte:
    »Die
Corrente
fließt unentwegt, wie jeder weiß, und ist allgegenwärtig, vor allem in den verkehrsreichsten Straßen. Die Verbindungswege zwischen der Stadt und ihren Randbezirken werden von kriminellen Banden überwacht. Diese Männer, schnell, gut ausgerüstet und unerschrocken, werfen sämtliche Güter von den Transportfahrzeugen auf die Straße. Kein Lastzug, Transporter oder Lieferwagen entgeht den Fängen der
correntisti

    Jeder
correntista
war Teil einer Organisation: Kundschafter spürten die Transportwege wertvoller Frachten auf, Träger schafften die erbeutete Ware fort, sobald sie vom Lastwagen gefallen war, und Hehler brachten sie auf den Markt. Als die Blütezeit des Schwarzhandels mit Armeebeständen längst vorbei war, wurde in der Via Forcella noch immer offen das Diebesgut der
Corrente
feilgeboten.
    Die
correntisti
waren nicht nur flink, sondern auch brutal. Oft waren sie zu ihrer eigenen Sicherheit bewaffnet: um sich vor bewaffneten Lastwagenfahrern und feindlichen Banden zu schützen; um Passanten davon abzuhalten, die von der Ladefläche gefallenen Waren aufzusammeln; doch vor allem, um ihrer Umgebung zu imponieren und als brutale Kerle zu gelten. In den Tagen der Ehrenwerten Gesellschaft hätte man einen solchen Ruf als »Ehre« bezeichnet, ein wichtiger Bestandteil der Mafiamacht – ihre sogenannte »Gebietshoheit«. Das aggressive Verhalten
’o Grifones
am Muschelstand stellte diese »Ehre« auf eine sehr individuelle, undisziplinierte Weise zur Schau.
    Nach seiner Tat tauchte
’o Grifone
mehrere Tage unter. Dann gönnte er sich ein letztes Frühstück in der Bar neben dem Polizeirevier, und nachdem er sich eine Geschichte zurechtgelegt hatte, wie er von dem Mann, den er erstochen hatte, zuerst übel beschimpft und provoziert worden war, stellte er sich den Behörden. Offenbar hielt sein Netz aus Helfershelfern dem Stress der intensiven Polizeiermittlungen und der öffentlichen Entrüstung nicht stand. Noch waren der Gebietshoheit
’o Grifones
und seiner Kumpane Grenzen gesetzt.
    Überraschenderweise nannten die Zeitungen in Neapel
’o Grifone
einen Camorrista. Anfangs zumindest. Eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen dieses Wort Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre in die Zeitungen gerutscht war. Eigenartigerweise verschwand dieser Hinweis auf die Camorra, als die Jagd nach
’o Grifone
in den folgenden Tagen fortgesetzt wurde. Aus
’o Grifone
, dem Camorrista, war ein gewöhnlicher Verbrecher geworden.
    Die Menschen in Neapel hatten in

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