Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
aus Mafiaprofit wesentlich weiter gestreut und besser verdeckt.
Die Vermehrung des illegalen Vermögens brachte eine ganze Reihe anderer Veränderungen mit sich. Die Kontakte zwischen dem organisierten Verbrechen und dem italienischen Staat wurden enger, aber auch gewalttätiger. Auch die Mafiaorganisationen selbst veränderten sich. Sie experimentierten mit neuen Regeln und neuen Kommandostrukturen und glichen sich einander an. Mafiosi aus unterschiedlichen Regionen bewegten sich in denselben Kreisen, machten Geschäfte miteinander, lernten voneinander und intrigierten gegeneinander. Überdies agierten sie zusehends internationaler. Gänzlich neue Mafias entstanden. Am Ende würden diese komplexen Veränderungen die Mafias in einen Krieg stürzen, dessen rohe Brutalität jedes Maß überstieg.
Alles begann mit einem Material, das die Fundamente der Gebietshoheit der Mafias darstellte und aus dem bis heute viele ihrer Brücken in die legale Wirtschaft und das Regierungssystem bestehen: dem Beton.
Neapel und Palermo haben vieles gemein. Beide waren einmal glorreiche Hauptstädte. Beiden hatten Häfen. Und beide prägte die langjährige Suche nach einer wirtschaftlichen Daseinsberechtigung in der Ära des Industriekapitalismus. Zu Beginn der fünfziger Jahre gab es im Herzen Palermos und Neapels alte Armutsenklaven: Die Straßen der heruntergekommenen Viertel waren von Bomben beschädigt, überfüllt, schmutzig und elend. Typhus und Tuberkulose waren regelmäßige Besucher. In den engen, unsicheren Gebäuden fehlte es an ordentlichen Küchen und Toiletten. In den Gassen spielten barfüßige Kinder zwischen offenen Abflusskanälen und Müll. Viele Brötchenverdiener, männliche wie weibliche, lebten mehr schlecht als recht als Taschendiebe, Hütchenbetrüger, Hausierer, Prostituierte, Zimmermädchen, Wäscherinnen, als Sammler von Brennholz, Lumpen oder Schrott. Die Maurer und Stukkateure, die gelegentlich Arbeit bekamen, oder die unterbeschäftigten Schuster und Schneider waren in der Minderzahl. Einer der wichtigsten Pfeiler der Wirtschaft in den Elendsvierteln war Kinderarbeit.
Eine Veränderung tat not. Um den Druck noch zu erhöhen, war Palermo jetzt wieder die Hauptstadt Siziliens, mit einem neuen Länderparlament und einer Armee von Bürokraten, die es unterzubringen galt. Doch statt einer geplanten Umquartierung und einer strategischen Stadtentwicklung wurden beide Städte schlicht geplündert. Die Bauspekulation drohte ins Kraut zu schießen, und die örtliche Regierung erwies sich als gänzlich unfähig, der wilden Beton-Bonanza irgendeine Ordnung aufzuerlegen. Gleichzeitig verschoben sich in den sechziger Jahren die wirtschaftlichen Achsen beider Städte. Früher besaß man entweder Ländereien (die Wohlhabenden) oder Improvisationstalent (die Armen). Jetzt bestritt man seinen Lebensunterhalt mit staatlichen Stellen, mageren Renten, Akkordarbeit, Kleinunternehmen, Dienstleistungen – und natürlich dem Bauwesen. Für die Armen bedeutete dieser Wandel Jahre des Wartens, Protestierens und Bettelns um die Gefälligkeit irgendeines Priesters oder Politikers, ehe sie endlich aus einem Elendsviertel der Stadtmitte in eine trostlose Sozialbausiedlung umquartiert wurden, die einen langen Fußmarsch von der nächsten Bushaltestelle entfernt lag. Für mittlere Einkommen war die Belohnung eine Mietswohnung in einem der vielen gleichförmig protzigen, unsolide gebauten Kästen auf der einstmals grünen Wiese.
Doch was die Rolle des organisierten Verbrechens im Bauboom der fünfziger und sechziger Jahre betraf, so waren die Unterschiede zwischen Neapel und Palermo augenfälliger als die Ähnlichkeiten.
In Neapel fing kein anderer die Stimmung des Bauspekulationsbooms besser ein als der Filmemacher Francesco Rosi in seinem Streifen aus dem Jahr 1963 mit dem Titel
Le mani sulla città.
»Hände über der Stadt«, wie der deutsche Titel lautet, war nicht nur ein preisgekrönter Film, sondern auch eine bewegende Bloßstellung gewissenloser Politiker, die von der Bauindustrie in Neapel profitierten. Rod Steiger schnarrt sich durch die Hauptrolle als Edoardo Nottola, ein raubgieriger Stadtrat und Baulöwe. Die Eingangsszene des Films zeigt Steiger, der bellend seine Pläne erläutert, während er mit beiden Armen in Richtung brutalistischer Wohnsilos gestikuliert:
»Diese Häuser dort drüben sind heutzutage Gold wert. Und wie kommt man sonst auf seine Kosten? Mit Handel? Der Industrie? Der industriellen Zukunft des
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