Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Pietro, wurde ein Jahr später erschossen. Sein Schwager Nino dagegen entging diesem Schicksal, indem er eine Milchkanne gegen den Angreifer schleuderte; vermutlich verließ er daraufhin Sizilien. Die Tatsache, dass Don Ciccio selbst nicht attackiert worden war (soweit wir wissen), zeigt, dass seine Macht längst über lokale Interessen hinausreichte: Er war eine Gelddruckmaschine für die gesamte Elite aus Politik und Mafia.
Eines der wichtigsten Charakteristika im italienischen Wirtschaftswunder war die Migration. Die boomenden Industriestädte des Nordens zogen süditalienische Wanderarbeiter an. Etwa eine Million Menschen übersiedelten in nur fünf Jahren, von 1958 bis 1963 , aus dem Süden in andere Regionen.
Auch Mafiosi wurden in den Jahrzehnten nach dem Krieg mobiler: Ihre Geschäfte führten sie in andere Gegenden Italiens. Mancherorts gründeten Gangster bleibende Kolonien. Diese Stützpunkte in Mittel- und Norditalien wie auch in Teilen des Südens, die nicht traditionellerweise von kriminellen Organisationen kontaminiert waren, gehören zu den auffälligsten Kennzeichen der jüngeren Mafiageschichte. Aus vorangegangenen Jahrzehnten ist nichts Vergleichbares überliefert.
Einige der amerikanischen Ganoven, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen worden waren, bauten sich als Erste außerhalb der Mafiakernländer Sizilien, Kalabrien und Kampanien ihre Geschäfte auf. Frank »Dreifinger« Coppola zum Beispiel handelte unweit von Rom mit Drogen.
Die frühesten Anzeichen von Mafiakolonien
innerhalb
Italiens fanden sich in der großen Migration während des Wirtschaftswunders. Mitte der fünfziger Jahre gründete Giacomo Zagari eine der ersten ’Ndrangheta-Kolonien bei Varese nahe der Schweizer Grenze. Der Mord an einem
gangmaster
in den frühen Morgenstunden des Neujahrstages von 1956 verwies auf die Präsenz der Mafia unter den kalabrischen Blumenpflückern an der ligurischen Küste unweit der französischen Grenze.
Vielen Norditalienern missfiel die Tatsache, dass Hunderttausende aus dem Süden zuzogen. Süditaliener, sagten sie, hätten zu viele Kinder und pflanzten Tomaten in der Badewanne. Nachrichten über Mafiaverbrechen beziehungsweise alle Verbrechen, die von Einwanderern begangen wurden, bestätigten diese Vorurteile gegen Süditaliener. Die Mafia schien eine Art ethnisches Gebrechen zu sein, das jeden von »da unten« stolz, rachsüchtig, gewalttätig und unehrlich machte.
In Wahrheit konnte man die Ausbreitung der Mafias nach Norden nicht den Migranten aus dem Süden anlasten. Mafiosi sind eine kleine Minderheit von Profiverbrechern, keine typischen Süditaliener. Vielerorts siedelten sich Migranten aus dem Süden an, ohne die Mafia im Schlepptau zu haben. Dennoch schuf die Migration viele neue Gelegenheiten für Mafiosi, vor allem – wie die Blumenpflücker in Ligurien anschaulich zeigen – für die
gangmaster
, die Migranten zwangen, für Niedriglöhne, schwarz und damit ohne gesetzlichen Schutz zu arbeiten. In den Jahren des italienischen Wirtschaftswunders und danach erweiterten und vervielfältigten sich solche kriminellen Möglichkeiten.
Am förderlichsten für eine dauerhafte Kolonialisierung des Nordens durch die Mafia waren die kriminellen Möglichkeiten, die die Bauindustrie bot. Der bekannteste Fall ist der Wintersportort Bardonecchia im nördlichen Piemont. Das Dorf liegt in den Alpen, nur wenige Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Nach Bardonecchia fahren die Einwohner Turins – Italiens Autostadt und eine der Hauptstädte des Wirtschaftswunders – zum Skilaufen. 1995 wurde der Gemeinderat in Bardonecchia – der erste Fall dieser Art in Norditalien – von der Zentralregierung in Rom aufgelöst, weil er von der Mafia unterwandert war. Interessanterweise war es die ’Ndrangheta, die in Bardonecchia Fuß gefasst hatte. Italiens unbekannteste Mafia, die zumeist mit einer im Verschwinden begriffenen Welt notleidender Bauern assoziiert worden war, entdeckte schnell die illegalen Profite, die das Bauwesen abwarf, und wurde zum Vorreiter einer neuen Expansionsphase im Norden.
Die Geschichte von Bardonecchia gleicht den Zeitrafferaufnahmen in einer Naturdokumentation. Stark fokussiert, verweisen sie auf das Wachstum eines einzelnen giftigen Unkrauts, verraten aber zugleich die verborgenen Abläufe eines gesamten Ökosystems. Im Zeitraffer führen uns die Bilder aus Bardonecchia weit in die Zukunft. Sie machen deutlich, wie die
Weitere Kostenlose Bücher