Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Mafias unter den richtigen Voraussetzungen gleichsam aus dem Nichts etwas errichten können, was sie »territoriale Kontrolle« nennen.
Den ersten Hinweis auf die Ankunft der ’Ndrangheta in Bardonecchia gab es am 2 . September 1963 , kurz nach Mitternacht. Es regnete in Strömen, als Mario Corino, ein junger Grundschullehrer, in die Via Giolitti bog, im historischen Teil der Gemeinde. Dort wurde er von zwei Männern angesprochen, beide halb unter Regenschirmen versteckt. Der Angriff erfolgte schnell – so schnell, dass Corino den stumpfen Gegenstand zu spät erkannte, der in seiner Richtung aufblitzte. Instinktiv wehrte er den ersten Schlag mit seinem Regenschirm und seinem Unterarm ab; der zweite streifte seinen Kopf und krachte auf seine Schulter. Seine Schreie trieben die Angreifer in die Flucht. Offenbar war der Überfall nur als Warnung gedacht.
Erste Spekulationen brachten die Attacke mit Corinos Engagement als Parteiführer der
Democrazia Cristiana
vor Ort in Verbindung. Genauere Nachforschungen ergaben, dass er »Unregelmäßigkeiten«, wie es dezent hieß, im örtlichen Bauwesen und der Gemeindeplanung angeprangert hatte. Doch bereits wenige Tage später hatten die beiden Männer, die Corino angegriffen hatten, ein Geständnis abgelegt, und die Presse stellte erleichtert fest, dass die Sache keinen politischen Hintergrund hatte. Die Schuldigen waren beide Verputzer und wurden pro Quadratmeter fertige Wand bezahlt. Sie hatten Corino attackiert, weil sie seine Bemühungen missbilligten, die Akkordarbeit auf Baustellen zu reglementieren. Damit war der Fall gelöst. Zumindest hatte es den Anschein.
Doch der ursprüngliche Verdacht sollte sich bald bestätigen. Überdies war der Angriff auf Mario Corino nur das erste Symptom einer weitaus größeren Bedrohung. Die Probleme begannen, wie Mario Corino richtig vermutet hatte, mit einem Bauboom zu Beginn der sechziger Jahre: Touristen und Wochenendgäste benötigten Wohnraum, wenn sie Bardonecchias Bergluft genießen sollten. Baufirmen brauchten billige Arbeitskräfte und die Möglichkeit, Sicherheitsbestimmungen und Arbeitsgesetze zu umgehen: Sie wandten sich an die
gangmaster
der ’Ndrangheta, die ihnen mit Freuden gefällig waren und aus der Flut kalabrischer Migranten Hilfsarbeiter rekrutierten. Die ungelernten Arbeiter in Bardonecchia, die größtenteils vorbestraft waren und entsprechend wenig Chancen auf ordentliche Arbeit hatten, lebten unter ärmlichen Bedingungen im Freien. Zu Beginn der siebziger Jahre wurden schätzungsweise 70 bis 80 Prozent der Arbeitskräfte im Dorf über die Mafia angeheuert. Viele dieser Arbeiter mussten einen Teil ihres Lohns an den
capo
abtreten. Gewerkschaften sahen keine Möglichkeit, hier Fuß zu fassen.
Doch die Bosse der ’Ndrangheta beschränkten sich schon längst nicht mehr auf die Ausbeutung von Arbeitern. Sie gründeten eigene Firmen und betätigten sich als Subunternehmer: Besonders beliebt waren Verputz- und Transportunternehmen. An zweiter Stelle kamen Baufirmen, die von der ’Ndrangheta kontrolliert waren. Zwielichtige Immobilienfirmen tauchten im Firmenregister auf und verschwanden wieder. Auf Konkurrenzbaustellen kam es zu unerklärlichen Bränden, Maschinen wurden demoliert und Arbeiter mit vorgehaltener Waffe bedroht. Über kurz oder lang hatte man die ehrlichen Bauunternehmen aus dem Markt gedrängt oder den Ganoven in die Hände getrieben.
Unterdessen hatte die Regierung das Ihre beigetragen, die Schatztruhen der kalabrischen Mafia zu füllen, indem sie eine neue Schnellstraße und einen Tunnel durch die Berge hatte bauen lassen. Die ’Ndrangheta rekrutierte einige kommunale Politiker und Verwaltungsbeamte, die ihr halfen, Aufträge an Land zu ziehen und Bestimmungen zu umgehen. Ohne die Zustimmung des örtlichen
capo
wurde kaum ein Stein umgedreht. Ein Verwaltungsangestellter überließ jedem, der sich um eine Lizenz zur Gründung einer neuen Firma bewarb, kurzerhand die Visitenkarte des Bosses – um ihm die lästige Bürokratie zu ersparen, behauptete er. Mario Corino, der Lehrer und Politiker, der 1963 überfallen worden war, führte einen heroischen Feldzug gegen den Einfluss der ’Ndrangheta auf die örtliche Regierung, als er 1972 Bürgermeister wurde. 1975 taten die Gerichtshöfe seine Warnungen als politisch motivierte Unkenrufe ab: Er benutze die Mafia als Vorwand, behaupteten sie, um seine Rivalen mit Schmutz zu bewerfen. Corinos Gegner täuschten ungläubige Entrüstung vor, als
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