Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
sich normalerweise um einen Boss und dessen Sippe. Die Cosa Nostra dagegen hat Regeln, die verhindern, dass zu viele Brüder in eine Familie aufgenommen werden, weil sich ansonsten das Kräftegleichgewicht verschieben könnte. In manchen Fällen können zwei Brüder sogar
unterschiedlichen
Familien beitreten.
Die Cosa Nostra prüft ihre Anwärter sehr sorgfältig, ehe sie sie in die Organisation aufnimmt. Oft muss ein Krimineller warten, bis er über 30 ist und schon jahrelang bewiesen hat, dass er aus dem rechten Holz geschnitzt ist. Die kalabrische Mafia lässt weitaus mehr Leute zu. In einem Polizeibericht von 1997 stand zu lesen, dass es auf Sizilien insgesamt 5500 Mafiosi gebe beziehungsweise einen pro 903 Einwohner. In Kalabrien waren es 6000 ’Ndranghetisti beziehungsweise einer von 345 Einwohnern. In der Provinz Reggio Calabria, in der die ’Ndrangheta am stärksten vertreten ist, kam sogar auf 160 Einwohner je ein ’Ndranghetista. In anderen Worten, proportional gesehen lässt die ’Ndrangheta zweieinhalb Mal mehr Mitglieder zu. Die männlichen Nachkommen eines Bosses werden eingeweiht, ob sie wollen oder nicht. Einige durchlaufen das Ritual sogar schon kurz nach ihrer Geburt. Dies soll jedoch nicht heißen, dass die kalabrische Mafia ihre Aufnahmekriterien verwässert hat. Es weist vielmehr darauf hin, dass die Organisation ihre Mitglieder erst dann prüft und aussortiert, wenn diese bereis aufgenommen sind. Das Auswahlverfahren zieht sich durch die gesamte Laufbahn eines ’Ndranghetista. Nur die tüchtigsten Verbrecher können in der Hierarchie aufsteigen. Junge Gangster können sich entweder auf Geschäftliches oder auf Gewalt spezialisieren.
Wenn sie an Ansehen gewinnen, durchlaufen sie eine Hierarchie der Statusebenen. Ein ’Ndranghetista beginnt als
giovane d’onore
(»junger Ehrenmann« – jemand, der zur Aufnahme in die Organisation vorgemerkt, aber noch kein Mitglied ist). Er muss den Ranghöheren täglich zu Diensten sein – indem er beispielsweise Personen bedroht, Besitz verwüstet, Schutzgelder eintreibt, Waffen und Diebesgut versteckt, Nahrungsmittel zu den Bergverliesen schafft, in denen Geiseln festgehalten werden –, steigt damit zunächst zum
picciotto
(»Burschen«) auf und gelangt von dort über eine lange Stufenleiter in der Hierarchie immer weiter nach oben.
Die einzelnen Ränge heißen
doti
(»Gaben«). Wer zu einer höheren »Gabe« aufsteigen darf, erhält einen
fiore
(eine »Blume«). Die Vergabe jeder »Blume« wird von einem Ritual begleitet. Dabei bestimmen nicht die Gaben, sondern Geheimnisse den Status innerhalb der ’Ndrangheta. Seit Gründung der ’Ndrangheta im 19 . Jahrhundert weist jede ihrer Zellen eine doppelte Struktur auf, die aus versiegelten Abteilungen besteht: die Untere und die Obere Gesellschaft. Jüngere, unerfahrenere und unzuverlässigere Rekruten bilden die Untere Gesellschaft. Mitglieder der Unteren Gesellschaft wissen nicht, was in der Oberen Gesellschaft vor sich geht, der die erfahreneren Ganoven angehören. Ein Aufstieg in der Hierarchie und von der Unteren zur Oberen Gesellschaft impliziert den Zugang zu größerem Geheimwissen.
Als die Einkünfte der ’Ndrangheta zu Beginn der 1970 er Jahre stiegen und auch die Spannungen zunahmen, wurde diese Etikette immer weiter verfeinert. Bis zum Beginn der siebziger Jahre war die höchste Gabe, die ein Mitglied der ’Ndrangheta erreichen konnte, die eines
sgarrista
. Wörtlich bedeutet
sgarrista
so etwas wie »ein Mann, der Anstoß erregt, der die Regeln bricht«. (Die Terminologie, wie so vieles an der ’Ndrangheta, geht auf das Gefängnissystem im 19 . Jahrhundert zurück.)
Um 1972 / 73 begannen einige Anführer, eine neue, höhere Gabe für sich selbst zu schaffen, die des
santista
(»Sanktist«). Mit dem neuen Status ging die Zugehörigkeit zu einer geheimen Elite einher, die als
Mamma Santissima
(»Heiligste Mutter«) oder kurz Santa bekannt ist. Theoretisch war die
Mamma Santissima
ein sehr exklusiver Kreis, zu dem nicht mehr als 24 Bosse zugelassen waren. Ein
santista
zu werden, erforderte ein neues Ritual, eine exklusive Variante der bereits existierenden Initiationsrituale der ’Ndrangheta. Der Träger dieser neuen »Blume« erhielt außerdem Zugang zu gewissen Privilegien. Das wohl wichtigste war die Mitgliedschaft in einem der geheimen Freimaurerbünde, die im Italien der siebziger Jahre aufkamen.
Die berüchtigtste dieser neuen Gruppierungen war
Propaganda Due
oder P
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