Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Berlusconi, um es noch einmal deutlich zu sagen, nie irgendeine Schuld nachgewiesen werden.
Jede Entführung war ein eklatanter Beweis für die Unfähigkeit der Regierungsinstitutionen, Leben und Besitz der Menschen zu schützen. Je stärker, reicher, vernetzter und kriegsbereiter die Mafias wurden, um so schwächer wurde Italien. Der Staat schien jeden Anspruch auf sein »legitimes Gewaltmonopol« verloren zu haben. In den 1970 er Jahren, während die Entführungswelle außer Kontrolle geriet, brachte eine Flut an wirtschaftlichen und politischen Problemen den Staat noch mehr in Misskredit.
Italien stand, wie die übrigen Industrienationen, am Beginn einer schweren Wirtschaftskrise, ausgelöst im Jahr 1973 durch einen dramatischen Anstieg der Ölpreise. Es folgte ein Jahrzehnt stockenden Wachstums, steigender Arbeitslosigkeit, explodierender Zinssätze und massiver Staatsverschuldung. Gewalttätige soziale Konflikte nahmen zu. Die Gewerkschaften, die sich seit dem »heißen Herbst« von 1969 so kämpferisch gezeigt hatten, gingen jetzt in die Defensive. Infolgedessen verloren einige Mitglieder von Italiens revolutionären Gruppierungen die Geduld mit friedlichen Formen des Protestes und bildeten insgeheim bewaffnete Zellen. Diese Terroristen, so rücksichtslos wie fehlgeleitet, betrachteten sich als revolutionäre Sturmspitze und gedachten einem kommunistischen Regime den Weg zu bereiten, indem sie strategisch ausgewählte Opfer verwundeten oder ermordeten. Italien befand sich in seiner sogenannten »bleiernen Zeit«.
Die Roten Brigaden (
Brigate Rosse
oder BR ) erwiesen sich als die gefährlichste dieser Gruppierungen. Viele ihrer frühesten Aktionen waren Entführungen. Die Opfer – üblicherweise Fabrikmanager – wurden einem »proletarischen Gerichtsverfahren« unterzogen und mit einem Plakat um den Hals, auf das ein revolutionärer Spruch gekleistert war, an die Fabriktore gekettet. Im Frühjahr 1974 entführten die Roten Brigaden gemäß dem neuen Wahlspruch »Angriff auf das Herz des Staates« einen Richter aus Genua und kamen in die Schlagzeilen. Obwohl ihre Forderungen nicht erfüllt wurden, ließen sie den Richter unversehrt frei.
Nachdem um die Mitte des Jahrzehnts eine Verhaftungswelle ihren Aktivitäten eine Flaute beschert hatte, kehrten die Roten Brigaden mit größerer terroristischer Entschlossenheit denn je zurück. Am 16 . März 1978 brachten sie das ganze Land zum Stillstand, indem sie den früheren Premierminister und Parteiführer der Christdemokraten Aldo Moro kidnappten. Moros Chauffeur und seine gesamte Polizeieskorte kamen dabei ums Leben. Am 9 . Mai wurde auch Moro selbst erschossen und seine Leiche in einem Wagen im Stadtzentrum Roms gefunden. Die BR und andere Gruppierungen setzten ihre Mordserie im nachfolgenden Jahrzehnt fort. Vorwiegend junge Menschen konnten sich in ihrer Ablehnung des Terrorismus nicht mit den Behörden identifizieren: »Weder für den Staat noch für die Roten Brigaden« lautete einer der politischen Wahlsprüche der damaligen Zeit. Dieser Staat würde bald beispielloser Mafiagewalt die Stirn bieten müssen. Erster Schauplatz des Krieges war Kalabrien.
Die
Mamma Santissima
und der erste ’Ndrangheta-Krieg
Als man in den sechziger und siebziger Jahren von den gewaltigen Reichtümern des organisierten Verbrechens erfuhr, behaupteten viele Beobachter, dass sowohl in Sizilien wie auch in Kalabrien die traditionelle von einer neuen Sorte Mafia abgelöst worden sei. Die Mafia war nicht mehr ländlich, sondern urban; sie nutzte »die Autobahn statt der Eselspfade«; es waren Gangster in »polierten Schuhen«, keine rückständigen Bauern in dreckigen Stiefeln. Der neue Mustermafioso, hieß es, sei ein junger, aggressiver Geschäftsmann. Vor allem habe er keine Zeit für die wunderlichen formalistischen Belange der Ehrenwerten Gesellschaften und ihren vorsintflutlichen Ehrenkult. Am augenfälligsten schien die Verwandlung im rückständigen Kalabrien zu sein. Hier glaubten sogar Menschen, die die Mafiabedrohung ernst nahmen, dass Initiationsrituale mitsamt den Rittern Osso, Mastrosso und Carcagnosso oder das Treffen an der Wallfahrtstätte der Madonna von Polsi ins Heimatmuseum gehörten – wenn sie nicht schon längst dort waren.
Die Brüder Giorgio, Paolo und Giovanni De Stefano waren für die meisten Menschen die Prototypen des aufstrebenden Business-Verbrechers. Sie stammten aus der Stadt Reggio Calabria, dem Reich des Bigamisten Don Mico Tripodo. Wie
Weitere Kostenlose Bücher