Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
die Polizei war häufig vom Schweigen der Angehörigen frustriert: Einige Familien mussten, nachdem ihre Angehörigen freigekommen waren, sogar die Schmach einer Verhaftung über sich ergehen lassen, weil sie Informationen zurückgehalten hatten.
Das Gift des Misstrauens sickerte in den öffentlichen Bereich. Jede spektakuläre Entführung zog eine ebenso giftige wie fruchtlose Debatte zwischen Journalisten, Politikern und Ordnungshütern nach sich, die unnötig viel Zeit in Anspruch nahm. Die einen plädierten für den harten Weg: Es sollte kein Lösegeld gezahlt und das Vermögen der Opfer eingefroren werden und dergleichen. Andere dagegen meinten, der »weiche Weg« – also die Verhandlung – sei die einzig humane und praktikable Option. Einige vermögende Sturköpfe aus dem Norden lernten gar den Umgang mit Waffen. Die Situation spitzte sich so sehr zu, dass einige wohlhabende Familien, wie 1978 ein Richter herausfand, spezielle Versicherungen abschlossen, um über ausreichend Geld zu verfügen, falls maskierte Banditen ihnen den vermeintlich unausweichlichen Besuch abstatteten. Vermögende Bürger – in anderen westlichen Demokratien waren sie fast automatisch mit dem Staatsapparat zufrieden und loyal – waren zornig, aufgebracht und voller Angst.
Es gibt ein faszinierendes Foto, das wie ein Mahnmal dieser schrecklichen Zeit der Angst und des Misstrauens anmutet. Es zeigt einen selbstbewussten jungen Mailänder Bauunternehmer, der zurückgelehnt auf einem Stuhl sitzt. Seine ernste Miene verrät noch keine Spur des unentwegten Leinwandstarlächelns, das später weltweit zu seinem Markenzeichen werden sollte. Er hat die Pilotenbrille abgenommen, und unter der weiten Schlaghose seines Anzugs sind modische Stiefeletten zu sehen. Doch symptomatisch für die siebziger Jahre sind weniger die Kleidung und die Accessoires auf dem Foto als vielmehr die Pistole im Halfter, die auf dem Schreibtisch liegt. Der Name des Unternehmers lautet Silvio Berlusconi, und zum Zeitpunkt der Aufnahme quälte ihn die begründete Angst vor einer Entführung, die er mit vielen anderen wohlhabenden Italienern teilte. Doch Berlusconis Faktotum, ein sizilianischer Bankier namens Marcello Dell’Utri, fand ein probateres Mittel als eine Pistole in der Schreibtischschublade, um diese Angst zu beruhigen. Zwischen 1974 und 1976 hatte Vittorio Mangano, ein Mafioso aus Palermo, eine nicht sonderlich klar umrissene Stellung (Friseur? Hausdiener? Verwalter?) in Berlusconis neu erworbener Villa in Arcore inne. Die italienischen Gerichte haben unlängst bestätigt, dass Mangano in Wirklichkeit ein Gewährsmann für den Schutz durch die Cosa Nostra war. Außerdem war er hier, um neue Freunde zu gewinnen. Einer richterlichen Verfügung zufolge war Mangano Teil einer »komplexen Strategie der Mafia mit dem Ziel, sich dem Unternehmer Berlusconi zu nähern und ihn enger an die kriminelle Organisation zu binden«.
Marcello Dell’Utri wurde von einem italienischen Gericht einer langjährigen Zusammenarbeit mit der Cosa Nostra für schuldig befunden, die unter anderem darin bestand, Berlusconi die Dienste Vittorio Manganos empfohlen zu haben. Der Oberste Gerichtshof hat vor kurzem entschieden, dass Dell’Utris Berufungsverfahren, das abgewiesen wurde, erneut aufgenommen werden muss. Dell’Utri bestreitet die Vorwürfe nach wie vor. Sie seien das Ergebnis eines juristischen Komplotts gegen ihn, behauptet er.
Vittorio Mangano wurde später wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt und starb im Jahr 2000 an Krebs. Er starb, wie ein guter Mafioso sterben sollte, nämlich ohne Licht in den Fall zu bringen.
Silvio Berlusconis eigene öffentliche Stellungnahme zu dem Fall ist, gelinde gesagt, befremdlich. So äußerte er sich 2008 , in einem Rundfunkinterview, zum Beispiel folgendermaßen über den Mafioso:
»Mangano hat sich uns gegenüber äußerst zuvorkommend verhalten. Später ist er dann unglücklicher Umstände wegen in die Fänge einer kriminellen Organisation geraten. Aber (…) obwohl er so krank war, blieb er standhaft und erfand niemals Lügen über mich. Einen Tag vor seinem Tod durfte er noch einmal nach Hause. Er starb im Gefängnis. Dell’Utri hatte also recht, als er sagte, Mangano habe sich heldenhaft benommen.«
Ob die Zeit der Entführungen tatsächlich der Beginn einer langjährigen Verbindung zwischen Berlusconi und der sizilianischen Mafia war, ist nicht ganz klar. Im Zusammenhang mit der Mangano-Affäre konnte
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