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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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bereits erwähnt, verbrachte Tripodo einen Großteil seiner Zeit in Kampanien, wo er enge Freundschaften mit den Camorristi des neapolitanischen Hinterlands pflegte. Doch ein Boss kann seinem Territorium nur eine bestimmte Zeit lang fern bleiben; dann sorgt ein Machtvakuum für Verwerfungen. Während Don Micos Abwesenheit stiegen die De Stefanos zu einer eigenständigen Macht auf.
    Giorgio, der älteste der Brüder und auch der gerissenste, wurde von einem abtrünnigen ’Ndranghetista als »der Komet« bezeichnet – der aufgehende Stern des organisierten Verbrechens in Kalabrien. Die De Stefanos waren die enthusiastischsten Teilnehmer an der Reggio-Revolte und am meisten darauf erpicht, sich mit faschistischen Umstürzlern zu befreunden. Und sie waren jung: Keiner von ihnen war zum Zeitpunkt des Montalto-Treffens jenseits der dreißig. Das Triumvirat, dessen Autorität die De Stefanos herauszufordern gedachten, stammte noch aus einer älteren Generation: Der Tarantella tanzende Don ’Ntoni Macrì hätte glatt ihr Großvater sein können.
    Ein ’Ndranghetista erinnerte sich auch, dass die De Stefanos Bildung besaßen, zumindest nach den Maßstäben der kalabrischen Unterwelt, und erzählte: »Paolo und Giorgio De Stefano hatten einige Jahre die Universität besucht. Giorgio hatte sich im Studienfach Medizin eingeschrieben, und Paolo studierte Jura, soweit ich weiß.« Diese Bildung war ihnen anzusehen. Fotos vom »Kometen« Giorgio und von Paolo, den beiden ältesten und mächtigsten De Stefano-Brüdern, zeigen Männer mit breiten, empfindsamen Gesichtern und ordentlich gescheiteltem schwarzen Haar. Ihr modernes, klar umrissenes Erscheinungsbild unterschied sich krass von den grimmigen Physiognomien der Bosse des Triumvirats: Mico Tripodo und die übrigen hatten allesamt kleine, gemeine Augen, kurzgeschorenes Haar und ausdruckslose, schlaffe Gesichter, die ein und demselben alten Baukasten für atavistische Gangstervisagen zu entstammen schienen.
    Doch trotz dieser gegensätzlichen Gesichter und des Wandels von Tradition zu Moderne, der in ihnen sichtbar zu werden schien, war keineswegs klar, wer als Sieger und wer als Verlierer aus der beispiellosen Gewalt der siebziger Jahre hervorgehen würde. Die allzu simple Schablone »Moderne versus Tradition«, die auf die Ereignisse der 1970 er Jahre gelegt wurde, entsprach nicht der Realität. Zum einen ist der Aufstieg von ehrgeizigen jungen Ganoven wie den De Stefanos innerhalb der ’Ndrangheta-Hierarchie keine Neuheit. Zum anderen ist selbst in Kalabrien ein Mafioso mit den Insignien der Bürgerlichkeit nicht ungewöhnlich. Außerdem sind die Mafias nicht traditionell im Sinne von althergebracht. Im Gegenteil, sie sind ebenso modern wie der italienische Staat.
    Die ’Ndrangheta ist, wie die Cosa Nostra, nur insofern
traditionalistisch
, als sie eigene interne Traditionen geschaffen hat, die für die Belange von Erpressung und Schwarzhandel zweckdienlich sind. Als die ’Ndrangheta mit Hilfe der Bauindustrie, des Tabakschmuggels und der Entführungen zu ihrem Vermögen gekommen war, ließ sie ihre Traditionen nicht einfach hinter sich und wandte sich der Moderne zu. Von Beginn an haben die Mafias in Italien stets Tradition und Moderne vermischt. Ihre Reaktion auf die neue Zeit war, die Mischung anzugleichen. Beziehungsweise, im Fall der ’Ndrangheta, brandneue Traditionen zu erfinden wie jene, die der Gegenstand dieses Kapitels sein soll: die
Mamma Santissima
. Diese neu geprägte Tradition ist aus zwei Gründen bedeutsam. Zum einen liefert sie den Beweis für die vielen Freunde, die die Mafias mit ihrem neuen Reichtum in der italienischen Elite gewinnen konnten. Zum anderen wurde die
Mamma Santissima
zum Auslöser des ersten ’Ndrangheta-Kriegs. Und um ihn zu verstehen, müssen wir einige zarte, aber wichtige Unterschiede zwischen ’Ndrangheta und Cosa Nostra begreifen.
     
    ’Ndrangheta und Cosa Nostra sind einander sehr ähnlich. Beide sind Ehrenwerte Gesellschaften – verbrecherische Freimaurerbünde. Und beide Organisationen wählen sehr sorgsam aus, wen sie in ihren Club aufnehmen wollen. Wer Angehörige bei Polizei oder Justiz hat, kann kein Mitglied werden. Weder Zuhälter noch Frauen sind zugelassen.
    Und doch gibt es auch Unterschiede in der Art und Weise, wie die beiden Organisationen ihre Führungsgruppe auswählen. ’Ndranghetisti stammen zumeist aus denselben Blutlinien. Die ’
ndrina
, die Grundeinheit der kalabrischen Organisation, gruppiert

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