Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
als wäre sie nur ein böser Traum:
»Einiges an der Camorra ist wunderschön. Sie ist eine instinktive, animalische Reaktion. Wir nehmen uns, was die uns nicht geben wollen, nehmen es mit Gewalt. Es gibt außergewöhnliche, mächtige Gefühle in der Camorra. Ich habe unglaublich liebevolle, solidarische Gesten beobachtet. Sie glauben an das, was sie tun, glauben fester daran als andere an politische Ideen (…) Die stärksten sind diejenigen, die Angst haben. Man sieht sie mit einer Pistole in der Hand, und man begreift, dass sie Schiss haben. Von allen Camorristi, die ich kenne, sind die feinfühligsten zugleich die brutalsten. Ich meine, wirklich brutal: maschinengewehr-brutal, massaker-brutal.«
Raffaele Cutolo gab diesen feinfühligen, verlorenen Jugendlichen eine elementare Geschichte – einen Grund zum Sterben, weil es offenbar keinen Grund zum Leben gab. Seine
Gedichte und Gedanken
waren ein kollektives Manifest, das für Schnelllebigkeit, teure Hemden und Schießereien plädierte. Die NCO kam einem Todeskult näher als irgendeine Mafia vor ihr.
Und 1978 trieb Cutolo die NCO in einen Krieg, der sich zum blutigsten Unterweltkrieg in der neapolitanischen Geschichte auswachsen sollte – zum Krieg gegen die sizilianische Mafia.
4 DAS GROSSE ABSCHLACHTEN
Blutorgie
Zuerst der Tabak. Dann das Bauwesen. Dann die Entführungen. Und schließlich das Heroin. Die neuen kriminellen Geldquellen, die sich zwischen den späten fünfziger und späten siebziger Jahren auftaten, boten Mafiosi
,
Camorristi und ’Ndranghetisti, die dem Wahlspruch gemäß nicht kleckerten, sondern klotzten und sich zusammenschlossen, um ihre Ziele zu verwirklichen, gewaltige Profite. Neue wirtschaftliche Netzwerke wurden errichtet: wie die Joint-Venture-Unternehmen, die das gemeinsame Kapital zunächst in Tabak, dann in Heroin investierten; oder die Entführungsbanden, die ihre Opfer im Norden kidnappten, in den Süden schleusten und auf dem Aspromonte gefangen hielten; oder die weltumspannenden Heroinschmuggelringe, die das Goldene Dreieck über Sizilien mit den Vereinigten Staaten verbanden. Neue Wirtschaftspartnerschaften entstanden, auch solche, die die Grenzen zwischen Cosa Nostra, Camorra und ’Ndrangheta sprengten.
Parallel zu diesen Phasen kaufmännischen Erfindungsreichtums gab es auch politische Neuerungen. In Italien würde kein Gangster lange überleben, wenn er der Illusion erläge, ausschließlich ein krimineller Unternehmer zu sein. Er hat keine andere Wahl, als sich in die permanenten Intrigen und Machtkämpfe unter seinesgleichen einzulassen. Als die Mafiaorganisationen reicher wurden, entstanden daher neue Machtinstanzen: die Triumvirate in Kalabrien und Sizilien, die »Region« der Cosa Nostra oder die sizilianischen Mafiafamilien, die in Kampanien Fuß gefasst hatten. Gangsterregeln und -traditionen wurden überholt oder gar neu erfunden, wie das Entführungsverbot in der Cosa Nostra, Raffaele Cutolos Wiederbelebung der alten Ehrenwerten Gesellschaft Neapels oder die
Mamma Santissima
der ’Ndrangheta.
Je schneller sich die Räder der kriminellen Wirtschaft drehten und je frenetischer die politischen Machenschaften wurden, desto heftiger wurde auch der Druck in Italiens Unterwelt. Die Einsätze und Risiken wurden immer größer, bis es in den achtziger Jahren zu einer Gewaltexplosion kam, die in ihrer Brutalität beispiellos war.
Wie viele Menschen kamen zu Tode? Präzise Angaben sind unmöglich. Angesichts der vielen Vermissten und der Morde, die gekonnt als Verbrechen aus Leidenschaft oder als aus dem Ruder gelaufene Raubüberfälle getarnt waren, werden wir die genaue Summe wohl nie ermitteln können. Es sei denn, all die ungekennzeichneten Gräber und Skelette in der Tiefe könnten lokalisiert werden und man erfände irgendeine Hexerei, die auch die Säurebäder dazu brächte, ihre Geschichten preiszugeben. Die Anzahl der Todesopfer in den ersten beiden Jahren von Siziliens zweitem Mafiakrieg wird auf 500 bis 1000 geschätzt. Über 900 Menschen starben in den Camorrakriegen zwischen 1979 und 1983 . Ein Journalist schätzt die Gesamtzahl all derer, die in den 1980 er Jahren in Süditalien durch das organisierte Verbrechen zu Tode kamen, auf 10 000 . Freilich nur eine Vermutung, aber keineswegs zu hoch gegriffen. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss ging konservativer vor und kam zu dem Ergebnis, dass zwischen 1981 und 1990 auf Sizilien 2905 , in Kampanien 2621 , in Kalabrien 1807 und in Apulien 757
Weitere Kostenlose Bücher