Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
daran sind die heuchlerischen Gesetzeshüter.«
Cutolo stellt die NCO als eine Bruderschaft der Geknechteten dar, die gegen die Anfechtungen einer feindseligen Welt fest zusammensteht; sie ist eine Gruppe von Freunden. Denn die Freundschaft ist das höchste Gut in der charismatischen Welt des »Professors«. »Die Freundschaft ist heilig, denn es ist schön, die Momente der Bitterkeit, der Freude, des Schmerzes und auch jene des Triumphes mit einem Freund teilen zu können.«
Und war die Freundschaft bedroht, musste der Tod zum besten Freund werden: »Vor jeder Schlacht muss der erste Gedanke eines Bosses dem ›Tod‹ gelten, den er sich zum Freund machen muss (…) Tod, mein Freund, hilf mir, deine Saat auszubringen.«
Am 1 . April 1982 entdeckten Carabinieri in Ottaviano, dass einige hundert Meter von Cutolos Schloss entfernt Freund Tod eine solche Saat ausgebracht hatte. Die Leiche lag im Kofferraum eines gestohlenen Wagens. Der Kopf, in Cellophan gewickelt und mit einem Handtuch bedeckt, fand sich in einem Plastikbecken auf dem Vordersitz. Selbst im gewaltmüden Italien der frühen achtziger Jahre sorgte eine Camorraenthauptung für viel Medienaufmerksamkeit. Doch in diesem Fall war es vor allem der Name des Opfers, der die Angelegenheit auf die Titelseiten brachte.
Professor Aldo Semerari hatte als Gerichtspsychologe seine Expertenmeinung zur geistigen Gesundheit Raffaele Cutolos lautstark kundgetan. Er war außerdem ein hervorragendes Beispiel für einen Menschentypus, der in den 1970 er und 1980 er Jahren zuhauf in jenem undurchsichtigen Boden gedieh, in dem organisiertes Verbrechen und staatsgefährdende Politik einander überlappten. Als Agitator der extremen Rechten, der über Verbindungen zum italienischen Geheimdienst verfügte, hatte Semerari mehrere kriminelle Organisationen für seine faschistischen Ideen zu gewinnen versucht. Doch am Ende gelang ihm nur ein simpler Tauschhandel: Die Gangster profitierten von seinen psychiatrischen Gutachten, und als Gegenleistung wurden Semeraris Freunde mit Waffen versorgt. Doch der Psychiater war unbesonnen genug, denselben Handel nicht nur mit Raffaele Cutolo einzugehen, sondern auch mit dessen Rivalen der Camorra. Als man seine kopflose Leiche in Ottaviano fand, war nicht klar, wer ihn für sein doppeltes Spiel bestraft hatte.
Der Fall Semerari verlieh Ottaviano den Ruf einer Stadt, »in der die Köpfe fliegen«. Zehn Männer fanden dort in den ersten fünf Monaten des Jahres 1982 den Tod. Journalisten kamen in Scharen, um das Unbehagen zu diagnostizieren. Doch nur einer – ein junger Mailänder Schriftsteller namens Luca Rossi – besaß die nötige Geduld, um zu ergründen, mit welcher Inbrunst die in
Gedichte und Gedanken
entwickelten Ideen von vielen Einheimischen aufgesogen worden waren. Auf einen entwurzelten Jugendlichen, der in der »südlichen Bronx« am Stadtrand von Neapel aufgewachsen war, wirkte Cutolos giftiges Credo wie ein starker Zauber. Der Konjunkturrückgang Mitte der siebziger Jahre schwemmte Tausende junger Männer auf den kriminellen Arbeitsmarkt. Während Cutolos Herrschaft wies die Region Kampanien die größte Anzahl straffälliger Jugendlicher im Land auf. Diese künftigen Camorristi waren arm, stammten aus prekären Familienverhältnissen und kamen früh mit Gewalt in Berührung. Wurden diese Jugendlichen dann offiziell rekrutiert und erhielten die aus fünf Punkten bestehenden Insignien der NCO um den rechten Daumenansatz tätowiert, brachten sie Freund Tod eine erschütternde Gleichgültigkeit entgegen:
»Was ich mit meinen 23 Jahren alles gesehen habe, reicht mir. Ich bin bereits tot. Jetzt lebe ich nur noch ein wenig geborgte Zeit, ein kurzes Stück geschenktes Leben. Die können mich umbringen, wenn sie wollen.«
»Wir sind schon wandelnde Leichen. Jemand hat bereits seine Knarre an meiner Schläfe und die Waffe gespannt, aber bevor du abdrückst, bring ich dich um.«
»Du fragst, warum ich mich so verhalte, warum ich bestimmte ›Jobs‹ erledige, die selbst andere Camorristi nicht erledigen wollen. Der Grund ist sehr einfach. Es ist mir egal, ob ich lebe oder sterbe. Irgendwie leg ich es sogar darauf an, getötet zu werden.«
Eine Zwanzigjährige aus Ottaviano, die von Luca Rossi interviewt wurde, bot anonym die scharfsichtigste und niederdrückendste Analyse der NCO -Mentalität. Es war die Stimme einer jungen Frau, die zwar selbst der Camorrakultur angehörte, aber dennoch imstande war, sich davon zu distanzieren,
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