Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Menschen gewaltsam starben. Die meisten dieser Verbrechen gingen auf das Konto des organisierten Verbrechens. Wenn diese Zahlen annähernd der Wahrheit entsprechen, bedeutet dies, dass das organisierte Verbrechen in Süditalien in den achtziger Jahren etwa doppelt so viele Menschenleben forderte wie drei Jahrzehnte religiöser und politischer Unruhen in Nordirland.
Jede Chronik dieses blutigen Jahrzehnts muss in Palermo beginnen, wo der Corleoneser Totò Riina seine Karriere fortsetzte. Wie bereits erwähnt, hatten die Entführungen, die Riina oder sein Boss Luciano Liggio arrangiert hatten, die Cosa Nostra bereits in den 1970 er Jahren in zwei Lager gespalten. Die Zusammensetzung des Triumvirats machte das Kräfteverhältnis nur allzu deutlich: auf der einen Seite Riina; ihm gegenüber, gleichsam als Gegengewicht, Stefano Bontate, der Prinz von Villagrazia, und Tano Badalamenti, das erste Oberhaupt der Palermer Kommission, nachdem diese 1974 wiederhergestellt worden war. Auf den ersten Blick waren die beiden Lager ungleich verteilt. Wenn sie auch keine engen Verbündeten waren, so gehörten Bontate und Badalamenti doch beide der größten Konzentration von Reichtum und Einfluss an, die die sizilianische Mafia jemals gekannt hatte. Sie wussten lokale wie nationale Politiker auf ihrer Seite, pflegten Kontakte zur zwielichtigen Welt der Freimaurer, hatten Palermos älteste Zitadellen der Mafiamacht in Händen und genossen das Ansehen – zumindest in Bontates Fall –, das mit einer altehrwürdigen Mafia-Blutlinie einhergeht. Von entscheidender Bedeutung war außerdem, dass sie über Beziehungen zum Transatlantischen Syndikat und dessen Beinahmonopol auf dem Heroinmarkt der Vereinigten Staaten verfügten. Riina stammte aus Corleone, das sich historisch gesehen am äußeren Rand der Mafiamacht in der Provinz Palermo befand. Von den elf Männern, die 1975 in der Kommission saßen, galten nur drei – darunter Riina selbst – als Gegenspieler zu Bontates und Badalamentis Machtsystem.
Doch Riina hatte das Glück – und vor allem die Gerissenheit – auf seiner Seite. Glück, weil sowohl Bontate als auch Badalamenti zu Beginn der siebziger Jahre verhaftet wurden, was Riina den nötigen Spielraum verschaffte, um seine ersten Entführungen zu planen. Und Gerissenheit, weil Riina, als tatsächlich Drogendollars nach Sizilien flossen, schnell die unterschwelligen Wogen von Neid erahnte, die sie in Bewegung setzten.
Ein jeder in der Cosa Nostra war am Heroingeschäft beteiligt oder zumindest daran interessiert. Aber nicht jeder hatte Zugang zum amerikanischen Markt. Das Transatlantische Syndikat hatte einen Engpass geschaffen und wusste mächtig Profit daraus zu schlagen. Viele Mafiosi kamen im Drogenboom der siebziger Jahre zu Geld, aber nur wenige – wie Badalamenti, Bontate und Inzerillo, die zur transatlantischen Heroinelite gehörten – wurden sagenhaft reich.
Der »Kurze« beschloss, seine wirtschaftliche Schwäche in politische Stärke zu verwandeln. Er wollte Kapital schlagen aus dem Neid und der Frustration, die das Transatlantische Syndikat erzeugt hatte, um auf Sizilien Freunde und Macht zu gewinnen und so die Kommission unter seine Kontrolle zu bringen. Indem er sämtliche Randfiguren des Heroingeschäfts an sich band, wollte Riina die Familie der Corleoneser zu einem großen Verband aus Ehrenmännern unterschiedlicher Familien umkrempeln.
Nichts an dieser Strategie war aufsehenerregend neu. In New York hatten sich während des Kriegs von Castellammare in den Jahren 1929 bis 1931 (an dessen Ende hatte Lucky Luciano sich an die Spitze der New Yorker Gangsterwelt gesetzt) Salvatore Maranzanos
castellammaresi
zu einem ähnlich familienübergreifenden Bündnis zusammengeschlossen. Im Kampf um die Vorherrschaft in Palermo, der mehr oder weniger zur selben Zeit stattfand wie der Krieg von Castellammare, hatte der »Generalissimo« Ernesto Marasà die Familien der Provinz Palermo unterwandert, um Boss der Bosse zu werden.
Auch Riinas Taktik war traditionell. Die sizilianische Mafia ist in Territorien unterteilt, und der Revierkult ist so alt wie die Mafia selbst. Wie es der Polizist Ermanno Sangiorgi, ein Kämpfer gegen die Mafia im 19 . Jahrhundert, ausdrückte: »Einer der Glaubenssätze der Mafia ist der Respekt vor der Gebietshoheit eines anderen. Wer dagegen verstößt, begeht eine persönliche Beleidigung.« Allerdings sind nicht nur die
Regeln
der Mafia traditionell, sondern auch die Gründe, warum
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