Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
hinter Gittern, offiziell einen apulischen NCO -Ableger, die
Nuova Camorra Pugliese
, deren Anführer verpflichtet waren, Cutolo mit 40 bis 50 Prozent an ihren Einnahmen zu beteiligen. Weil ihm, mit anderen Worten, die Vorherrschaft in Kampanien nicht genügte, versuchte der »Professor« jetzt, die gesamte apulische Unterwelt an sich zu binden. Doch in Apulien wie in Kampanien wurden die größenwahnsinnigen Pläne des »Professors« schließlich durchkreuzt. Als die NCO infolge der Cirillo-Entführung der Niederlage entgegenschlitterte, sehnten sich einige apulische Camorristi zunehmend nach größerer Autonomie.
Die ersten Anzeichen, dass etwas Merkwürdiges vor sich ging im kriminellen Geheimbund Apuliens, fanden die Behörden zu Beginn des Jahres 1984 , als in einer Gefängniszelle ein von Hand geschriebenes Dokument auftauchte. Unter dem Titel »Der S-Kodex« waren die Glaubensartikel einer neuen kriminellen Bruderschaft namens
Famiglia Salentina Libera
(Freie Familie aus Salento, einer Stadt am äußersten Ende des Stiefelabsatzes) aufgelistet. In Artikel 7 des S-Kodex hieß es, das Ziel der Organisation bestehe darin, »keiner Familie aus anderen Regionen die Herrschaft über unser Territorium zu überlassen«. Allmählich formierte sich der Widerstand gegen den »Professor«.
Nur wenige Wochen später, in einem Gefängnis in Bari, Apuliens größter Stadt, wurde eine weitere Satzung gefunden, ebenfalls von einer neuen Mafia: der
Sacra Corona Unita
. Der Verfasser der Satzung, zugleich der Begründer der SCU und ihr Oberboss, war ein Mörder namens Giuseppe Rogoli. Was Rogoli 1981 veranlasst hatte, die SCU zu gründen, war zum Teil das Bedürfnis, der Macht der
Nuova Camorra Organizzata
im Gefängnis entgegenzuwirken. Wie er später anmerken sollte:
»Damals bildeten Cutolos Männer sich ein, sie wären Gott der Allmächtige, und in jedem Gefängnis haben sie versucht, uns unterzubuttern – was uns natürlich nicht gepasst hat. Also haben einige von uns, nicht nur ich, beschlossen, diese
Sacra Corona Unita
zu gründen, gegen die übergroße Macht der NCO in den Gefängnissen.«
Rogoli, der sich nach einem Gegengewicht zum Einfluss des »Professors« in seiner Region umsah, suchte für seine neue Bruderschaft die Unterstützung der ’Ndrangheta. Umberto Bellocco, ’Ndrangheta-Boss aus Rosarno, führte Rogoli in die kalabrische Mafia ein und diktierte ihm dann die Regeln der
Sacra Corona Unita
. Die Kalabresen nahmen das Recht für sich in Anspruch, die Rituale zu leiten, die mit der Beförderung von SCU -Mitgliedern auf höhere Ränge innerhalb der apulischen Organisation einhergingen, und forderten bei einer Reihe von Entführungen die Mitarbeit der SCU . Die SCU war in anderen Worten eine halbautonome apulische Tochtergesellschaft der ’Ndrangheta.
Rogolis Männer begrüßten die geborgten mystischen Rituale der SCU mit dem Eifer der Bekehrten. Einer der frühen Anführer der neuen Mafia, Romano Oronzo, gab ein Gemälde in Auftrag, das sämtliche Symbole der neuen Mafia enthielt. Der Künstler, der den Auftrag annahm, würde es später vor Gericht folgendermaßen beschreiben:
»Ich sollte ein Dreieck zeichnen, das Symbol der Heiligen Dreifaltigkeit, mit dem Gesicht Jesu und einer Taube, dazu die Welt, außerdem seine Augen, und eine Hand, die einen Blitz abwendet. Bevor ich mit dem Bild begann, bat ich ihn, mir zu erklären, was es mit diesen Symbolen auf sich habe, und er sagte mir, er habe das Gefühl, von Gott gesandt zu sein, um der Welt zu helfen.«
Wie der »Professor«, dessen Macht über Apulien er sich entgegenstemmte, baute Rogoli seine Organisation zunächst hinter Gittern auf und strebte dann auch außerhalb des Gefängnisses nach territorialer Kontrolle. Die SCU erhielt großen Zulauf, schluckte am Ende die
Famiglia Salentina Libera
und versammelte Kriminelle aus allen Provinzen Apuliens.
Trotz alledem hatte sie kein ruhiges Leben. Mitglieder aus verschiedenen Gegenden Apuliens unterwarfen sich oft nur widerstrebend Rogolis Autorität. Rivalitäten wegen der immer einträglicheren Drogengeschäfte gaben ebenfalls Anlass zu Reibereien. Neue Minimafias wurden in Apulien gegründet als Gegenspieler zur SCU . 1986 waren die internen Rangeleien so heftig geworden, dass Rogoli sich bemüßigt fühlte, eine neue SCU zu gründen, wobei er dieses Geistesprodukt einfallsreich als
Nuova Sacra Corona Unita
bezeichnete. Die SCU erhielt eine Befehlsinstanz, die
Società Riservatissima
(oder
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