Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
gewesen, der Garibaldi auf dem Bahnsteig in Neapel die Hand schüttelte; später bestiegen beide dieselbe Droschke und fuhren gemeinsam durch die jubelnden Menschenmassen.
Garibaldis triumphaler Einzug in Neapel war auch für »rehabilitierte« Camorrabosse wie Salvatore De Crescenzo das Signal, aus der errungenen Macht Kapital zu schlagen und die dreifarbigen Kokarden als Freibrief für Erpressung zu missbrauchen. Nach Garibaldis Ankunft in Neapel wurde ein vorläufiges Staatsoberhaupt bestimmt, das in seinem Namen regierte, während die Eingliederung des Südens in das neue Königreich Italien vorbereitet wurde. In der kurzen Phase des Garibaldi-Regimes zeigte die Camorra ihr wahres Gesicht. Wie Marc Monnier sarkastisch bemerkte:
»Nachdem man sie zu Polizisten gemacht hatte, hörten sie eine Weile auf, Camorristi zu sein. Jetzt wurden sie wieder zu Camorristi, blieben aber weiterhin Polizisten.«
Für die Camorristi waren Erpressung und Schmuggel jetzt einfacher und gewinnträchtiger denn je. Der Schmuggel auf See war eine besondere Spezialität Salvatore De Crescenzos – Monnier zufolge war er der »
generalissimo
der Matrosen«. Während seine bewaffneten Banden die Zollbeamten einschüchterten, führte er zollfreie Kleidungsstücke ein, deren Zahl genügt hätte, um die ganze Stadt neu einzukleiden. Der Camorrista Pasquale Merolle, minder bekannt, aber nicht minder mächtig, dominierte den Schwarzhandel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus dem Hinterland. Sobald eine Fuhre Wein, Fleisch oder Milch sich der Zollschranke näherte, scharten sich Merolles Männer darum und riefen: »È roba d’o si Peppe«, »Das Zeug gehört Onkel Peppe. Lasst es passieren!« Wobei mit »Onkel Peppe« Giuseppe Garibaldi gemeint war. Die Camorra brachte den Warenverkehr mit beängstigender Geschwindigkeit an sich; die Zolleinnahmen der Regierung brachen ein. An einem Tag wurden nur 25
soldi
eingenommen: gerade genug, um ein paar Pizzen zu kaufen.
Die Camorra fand auch völlig neue Bereiche, in denen sie ihren Einfluss geltend machte. Unmittelbar nach den Feierlichkeiten anlässlich der Ankunft Garibaldis verbreitete sich überall ein Gefühl der Unsicherheit. Neapel war nicht nur eine Metropole, die aus Armut und Elend bestand. Sie war auch eine Stadt der Pöstchensucher und Trittbrettfahrer, der unterbeschäftigten Anwälte und Federfuchser, die ihre Stellung den Gefälligkeiten der Mächtigen verdankten. Ein Großteil der Geringverdiener in Neapel stand in direkter Abhängigkeit vom bourbonischen Königshof und der Regierung. Sollte Neapel seinen Hauptstadtstatus verlieren, würde es praktisch seine Daseinsberechtigung einbüßen. Die Bevölkerung fragte sich schon bald, ob ihre Arbeitsplätze sicher waren. Ein Umsturz und eine Horde politischer Profiteure, erpicht darauf, ihren Freunden Posten zu verschaffen, konnten Tausende in die Arbeitslosigkeit stürzen. Doch während einerseits kein Arbeitsplatz mehr sicher schien, war andererseits auch kein Arbeitsplatz mehr außer Reichweite. Das Vernünftigste war, so viel Krach zu schlagen wie möglich und unentwegt jeden zu behelligen, der Macht und Einfluss hatte. Auf diese Weise konnte man weniger leicht übersehen und kaltgestellt werden, wenn es an die Verteilung von Posten, Aufträgen und Pensionen ging.
In den Wochen, die Garibaldis triumphalem Einzug folgten, mussten sich die Minister und Verwaltungsbeamten, die versuchten, in seinem Namen die Stadt zu regieren, durch Massen von Bittstellern kämpfen, um zu ihren Amtsstuben zu gelangen. Camorristi standen oft am Kopf der Schlange. Antonio Scialoja, der Ökonom, der 1857 seine beißende Analyse der Camorra veröffentlicht hatte, kehrte 1860 nach Neapel zurück und erlebte das Durcheinander, das unter Garibaldis kurzer Herrschaft entstanden war.
»Die gegenwärtige Regierung hat Dreck angefasst und ist nun davon besudelt. Sämtliche Minister vergeben ihre Posten an diejenigen, die laut genug schreien. Einige wenige beschränken sich darauf, im Kreise jener schurkischen Wortführer Hof zu halten, die man hierzulande Camorristi nennt.«
Mit »einigen wenigen« meinte er zweifellos auch Liborio Romano. Nicht einmal unter den diskreditierten Bourbonen hatten Camorristi so viel Gelegenheit erhalten, an Macht und Geld zu gelangen.
Spanische Großspurigkeit: Der erste Kampf gegen die Camorra
Am 21 . Oktober 1860 , einem Sonntag im Herbst, der mit heiterem Sonnenschein und einem klaren blauen Himmel gesegnet war,
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