Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
stimmte fast jeder Bürger Neapels für den Eintritt ins Königreich Italien. Die Szenen auf der größten Piazza der Stadt – später zum Gedenken an diesen Tag zur Piazza del Plebiscito umgetauft – waren unvergesslich. Die Basilika San Francesco di Paola schien mit dem weiten Halbrund ihrer Kolonnade die Menschenmenge zu umarmen. Unter dem Portikus war ein Banner zwischen die Säulen gespannt, auf dem »Volksversammlungen« zu lesen war. Darunter standen zwei riesige Körbe, die mit »Ja« und »Nein« gekennzeichnet waren.
In unermesslicher Zahl, doch geduldig und gutgelaunt, warteten die ärmsten Neapolitaner darauf, bis die Reihe an ihnen war, die marmornen Stufen zu erklimmen und zu wählen. Zerlumpte alte Männer, zu hinfällig zum Gehen, wurden getragen und weinten vor Freude, als sie ihre Wahlkugel in den Ja-Korb warfen. Die Wirtin, Patriotin und Agentin der Camorra, die als
la Sangiovannara
bekannt war, tat sich wieder einmal besonders hervor. Sie durfte sogar wählen – ihr als einziger Frau wurde diese Ehre zuteil –, wegen ihrer Verdienste für die nationale Sache. Radierungen ihrer einprägsamen Gesichtszüge erschienen sogar in den Zeitungen: Nach der Aussage eines Betrachters war sie der »Inbegriff griechisch-neapolitanischer Schönheit«.
Kurz nach dem Volksentscheid verzichtete Garibaldi auf seine vorübergehende Rolle als Diktator und überließ das erschreckende Durcheinander, das Liborio Romano angerichtet hatte, einer Übergangsregierung, die die Eingliederung Neapels in das Königreich Italien bewerkstelligte. In den folgenden Monaten sollte die Camorra zum ersten Mal mit einer Regierung konfrontiert werden, die alles daransetzte, sich ihrem Würgegriff zu entwinden. Neapel war reif für die Entscheidung, wer in seinen Gassen fortan das Sagen hatte.
Der Mann, der die Polizeikrise in Neapel zu meistern hatte, war ebenfalls ein süditalienischer Patriot, auch er ein ehemaliger Insasse des Bourbonengefängnisses: Silvio Spaventa. Doch Spaventas Politik unterschied sich grundlegend von jener seines Vorgängers Liborio Romano. Spaventa, ein gedrungener Mensch mit schwarzem Bart und schlaffen Wangen, hielt sich strikt an moralische Grundsätze und erwartete dasselbe von anderen. Während Romano die Massen mitzureißen wusste, war Spaventa von beispielhafter Beherrschtheit und verabscheute öffentliche Auftritte. 1848 hatte er ein politisches Bankett besucht, das in einem Theater stattfand. Zum Höhepunkt des Abends sollte er stolz über die Bühne schreiten. Irritiert und nervös übersah er den Souffleurkasten und fiel prompt hinein.
Spaventa hatte die Härten des Häftlingsdaseins überstanden, indem er sich die philosophischen Schriften Hegels und Spinozas zu Gemüte führte. Wie der Herzog von Castromediano war auch er erst im Jahr 1859 aus der Haft entlassen worden. Als der König von Neapel seinen
Atto Sovrano
erließ, kehrte Spaventa nach Neapel zurück, um sich im Untergrund zu engagieren, als Mitglied des »Ordnungskomitees«. Allerdings kam für den unbestechlichen Spaventa eine Übereinkunft mit den Camorristi keinesfalls in Frage. Um der Bourbonenpolizei zu entgehen, schlief er jede Nacht in einem anderen Bett; das Hôtel de Genève seines Freundes Marc Monnier war eine seiner Zufluchtsstätten. Der Sturz des Königreichs beider Sizilien schließlich gab ihm die Gelegenheit, das hehre Konzept von der ethischen Rolle des Staates, das ihn seine Gefängnislektüre gelehrt hatte, in die Tat umzusetzen. Spaventa war nicht nur ein schlauer Kopf, sondern auch ein geschickter Netzwerker, der wusste, wie sehr beim Aufbau einer Machtbasis die persönliche Loyalität zählte. Doch Spaventas Charakter, seine Prinzipien und Fähigkeiten sollten vor eine Zerreißprobe gestellt werden, als er sich als erster italienischer Politiker gegen die Camorra zur Wehr setzte. Während Liborio Romano, der sich dem organisierten Verbrechen anbiederte, zum Liebling der Neapolitaner wurde, erntete Silvio Spaventa mit seiner rigorosen Haltung nichts als Ablehnung.
Spaventa hatte schnell begriffen, wie schwer die Aufgabe war, die er sich aufgebürdet hatte. Am 28 . Oktober 1860 schrieb er an seinen Bruder:
»Der Gestank und die Fäulnis hier besudeln meine Sinne. Man begreift einfach nicht, was vor sich geht, worauf sie aus sind. Wohin man sich auch wendet, überall sind Leute, die betteln und an sich raffen, so viel sie können. Die Stadt ist voll von Geschäftemachern, Ränkeschmieden und Dieben. Ich
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