Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
töten. Andere Stimmen wiederum behaupteten – allerdings gehörten sie verbitterten Bourbonenanhängern –, Romano sei zu keiner Zeit erpresst worden, er und andere Patrioten seien von jeher fügsame Partner der Camorra gewesen.
Einige Jahre pflegte Romano sich leise herauszuwinden, sobald jemand versuchte, seiner Aktion einen Sinn abzugewinnen. Mit der Zeit kehrte sich sein öffentliches Image als Retter Neapels ins Gegenteil. Die meisten Meinungsbildner betrachteten ihn irgendwann als zynisch, korrupt und eitel; die Mehrheit stimmte überein, Romano habe die ganze Zeit mit der Camorra im geheimen Einvernehmen gestanden. Einige Jahre später bemühte sich Romano, seine Version der Geschichte zu erzählen und seine gewichtige Rolle in jenem turbulenten Sommer des Jahres 1860 herauszustellen. Doch seine Memoiren, mit ihrer Mischung aus Selbstüberhöhung und ausweichendem Gefasel, befeuerten noch die schlimmsten Verdächtigungen, zumal sich darin allenfalls erkennen ließ, dass er in der Tat eine Menge zu verbergen hatte.
Romanos Erklärung, wie er die Camorra überreden konnte, die Bourbonenpolizei zu ersetzen, liest sich dermaßen hölzern und ausweichend, dass sie schon fast komisch anmutet. Hätte er argumentiert, dass Neapel schwer zu bändigen sei und man nach dem Sturz der Bourbonen auf jedes erdenkliche Mittel habe zurückgreifen müssen, um den Frieden zu wahren, einschließlich der Rekrutierung von Kriminellen in die Reihen der Polizei, wäre er auf wenig Kritik gestoßen. Stattdessen erzählte Romano eine seltsame Geschichte: Er habe den bekanntesten
capo
der Ehrenwerten Gesellschaft gebeten, ihn in seiner Amtsstube der Präfektur aufzusuchen. Als ihm der berüchtigte Ganove gegenübersaß, habe er, Romano, ihm eine bewegende Rede gehalten: Die vorherige Regierung habe hart arbeitenden, mittellosen Menschen jede Aufstiegsmöglichkeit verweigert, erklärte er dem Ganoven. (Dem Camorrista mag man ein Erröten nachsehen, als ihm dämmerte, dass Romano sich auf ihn bezog.) Die Männer der ehrenwerten Gesellschaft, so Romano weiter, sollten die Gelegenheit erhalten, einen Schlussstrich unter ihre zwielichtige Vergangenheit zu ziehen und »sich zu rehabilitieren«. Die Besten unter ihnen sollten in eine neu gegründete Polizeitruppe aufgenommen werden, die nicht mehr aus »bösartigen Verbrechern und hinterhältigen Spitzeln, sondern aus ehrlichen Leuten« bestand.
Der Gangsterboss, so Romano, sei zu Tränen gerührt gewesen angesichts dieser Aussicht auf eine neue Morgenröte. Der Camorralegende nach war es kein anderer als Salvatore De Crescenzo.
Die Geschichte ist dermaßen pathetisch, dass sie eine Szene aus einer Oper sein könnte. Am besten, man liest die gesamte Lebenserinnerung als eine nachträgliche Beschönigung. Sie sollte der verstörenden Rolle, die Liborio Romano und die Camorra bei der Geburt einer italienischen Nation spielten, eine Einheit von Zeit, Ort und Handlung – und sentimentalen Glanz verleihen. Wahrscheinlich ist, dass Romano von Anfang an mit der Ehrenwerten Gesellschaft unter einer Decke gesteckt hatte.
Letztendlich sind die genaueren Details der Übereinkunft, die zwischen den Ganoven und den Patrioten getroffen wurde, ohne Belang. Die Ereignisse in Neapel sollten schon bald zeigen, dass ein Pakt mit dem Teufel nun einmal ein Pakt mit dem Teufel ist, ganz gleich, was im Kleingedruckten steht.
Das Zeug gehört Onkel Peppe: Die Camorra sahnt ab
Der letzte Bourbonenkönig von Neapel verließ seine Hauptstadt am 6 . September 1860 .
Am darauffolgenden Morgen ergoss sich die Bevölkerung auf die Straßen und versammelte sich am Bahnhof, um die Ankunft Giuseppe Garibaldis zu feiern. Musikkapellen spielten, Wimpel flatterten. Damen der besten Gesellschaft mischten sich unter den gemeinsten Pöbel. »Viva Garibaldi!«, riefen alle, bis sie nur noch krächzen konnten. Marc Monnier verließ sein Hotel früh am Morgen, um sich der Menge anzuschließen. »Wer hätte je gedacht, dass nationale Begeisterung so viel Lärm machen könnte«, notierte er. Durch eine Lücke in der jubelnden Menge erhaschte er einen Blick auf Garibaldi, der ein müdes Glückslächeln im Gesicht trug. Er brauchte nicht den Hals zu recken nach der
Sangiovannara
und ihrer großen Gefolgschaft bewaffneter Frauen. Oder nach den Camorristi, die über dem Gedränge in ihren Droschken standen und die Flinten schwenkten.
Liborio Romano sonnte sich in Garibaldis Ruhm. Der große Freund der Camorra war der Erste
Weitere Kostenlose Bücher