Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
mafiosen Verhaltensmustern aus eineinhalb Jahrhunderten: Zuerst machen sie dich schlecht, dann bringen sie dich um. Falcones Feinde hatten eine einfachere Erklärung. Das Attentat sei eine Finte gewesen, behaupteten sie, von Falcone persönlich arrangiert, um seine Karriere voranzubringen.
Es waren die finstersten, angstvollsten Tage in Falcones Leben. In den vergangenen 18 Monaten hatte er erkannt, wie viele Schönwetterfreunde er hatte. Im Mai 1986 heiratete er die Liebe seines Lebens – eine wissenschaftlich brillante Juristin namens Francesca Morvillo. Das Paar hatte sich bereits gegen Kinder entschieden: »Ich will keine Waisen in die Welt setzen«, sagte Falcone. Nach dem Addaura-Attentat spielte er ernsthaft mit dem Gedanken, sich von Francesca zu trennen, damit sie nicht gezwungen wäre, sein unausweichliches Schicksal zu teilen. »Ich bin eine wandelnde Leiche«, sagte er zu seiner Schwester.
In den folgenden Monaten hob sich Falcones Stimmung ein wenig. Im Zuge einer umfassenden Gerichtsreform wurde die Staatsanwaltschaft umstrukturiert. Falcone wurde befördert. Doch schon bald lagen sein neuer Vorgesetzter und er sich in den Haaren. Wie er in einem inoffiziellen Gespräch einem Reporter gestand: »Hier kann man unmöglich arbeiten. Ein Schritt nach vorn, drei zurück: So sieht der Kampf gegen die Mafia aus.«
Falcone geriet zudem erneut ins Kreuzfeuer der Medien. Im Mai 1990 nutzte der Bürgermeister und Mafiagegner Leoluca Orlando eine politische Talkshow als Plattform, um Falcone zu beschuldigen, er beschütze Politiker mit Mafiaverbindungen vor dem Gesetz – heikle Fälle »lässt er in der Schreibtischschublade verschwinden«. Also noch eine niederträchtige Verunglimpfung. Das Gesetz gehe ohnehin nur gegen die unteren Ränge der kriminellen Welt vor, so die weitverbreitete Überzeugung, während die »dicken Fische« oder die »echte Mafia« oder die sogenannte »dritte Ebene« unangetastet blieben. Eine solche Überzeugung lässt sich unmöglich widerlegen. Sie schürt eine Politikverdrossenheit, die in Italien die öffentliche Meinung stark beeinflusst.
Falcone forderte Orlando wütend auf, er möge seine Behauptungen beweisen. Wenn er Leute mit Mafiakontakten nicht vor Gericht bringe, dann aus dem einfachen Grund, dass er nicht genügend Beweise gegen sie in der Hand habe. Falcone vermutete, dass Orlando zynischerweise versuchte, mafiafeindlicher dazustehen als er, der Vorreiter im Kampf gegen die Mafia. Die Angelegenheit war auch persönlich sehr schmerzhaft, weil Falcone den Bürgermeister zu seinen Freunden gezählt hatte: Er hatte den Richter 1986 sogar getraut. Dennoch beharrte Orlando monatelang auf seinen Anschuldigungen und warf Falcone vor, er wolle sich beim korrupten Establishment in Rom einschmeicheln.
Bedenklicher als solche persönlichen Anwürfe war die schrittweise Aushöhlung von Falcones und Borsellinos Arbeit im Mammutprozess. Schon Anfang 1989 saßen nur 60 der 342 Männer, die im Mammutprozess verurteilt worden waren, noch hinter Gittern. Viele waren wieder auf freiem Fuß, weil das italienische Rechtswesen erst denjenigen für schuldig erachtete, dessen Fall sämtliche Instanzen der Justiz, bis zum Obersten Gerichtshof, durchlaufen hatte. Doch auch wer noch inhaftiert war, hatte Mittel und Wege gefunden, es sich gutgehen zu lassen. Der Zugbombenleger Pippo Calò, der Buscetta im Gerichtsbunker provoziert hatte, hatte sich Asthma bescheinigen lassen und lebte jetzt angenehm in einem Krankenhaus in Palermo.
Es sollte noch schlimmer kommen. Im Dezember 1990 wurden die Urteile aus dem Mammutprozess vor dem Berufungsgericht neu verhandelt. Sieben von 19 lebenslangen Haftstrafen wurden gekippt, desgleichen die Erklärungen Falcones und Borsellinos zu einer Anzahl von Morden an hochstehenden Persönlichkeiten, darunter derjenige an General Carlo Alberto Dalla Chiesa. Das gesamte »Buscetta-Theorem« wie auch der Wert von Aussagen der
pentiti
wurden in Zweifel gestellt. Der Fall sollte bald vor den Obersten Gerichtshof gehen, der bereits sein tiefes Misstrauen gegen die Methoden der Palermer Richter bewiesen hatte und ihrer Theorie, dass die sizilianische Mafia eine einzige Organisation sei, mit Skepsis begegnete. Nachdem sie durch den Mammutprozess in all ihrer grausamen Komplexität enthüllt worden war, wurde die Mafia in juristischer Hinsicht schnell wieder ebenso schemenhaft, wie sie es über ein Jahrhundert lang gewesen war.
Falcone geht nach Rom
Tief unter der
Weitere Kostenlose Bücher