Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

gegen die Mafia jahrzehntelang mit dem Leben bezahlt hatten, lange Zeit als unwürdig erwiesen. Doch selbst der Papst zeigte sich bewegt von der Stimmung, die 1992 und 1993 in Palermo herrschte.
    Im Mai 1993 kam Johannes Paul  II . nach zehn Jahren Amtszeit zum ersten Mal nach Sizilien. Im Fußballstadion von Agrigent, kurz nachdem er die Familie eines jungen Richters namens Rosario Livatino getroffen hatte, der 1990 ermordet worden war, wich der Pontifex von seiner vorbereiteten Rede ab, um sich in einer Klagerede gegen die Mafia und ihre »Kultur des Todes« zu wenden. »Bekehrt euch! Denn eines Tages wird Gott euch richten!« Der Vatikan hatte seine traditionellen Befürchtungen in Bezug auf die Antimafia-Bewegung aufgegeben. Die Cosa Nostra war endlich exkommuniziert.
     
    Die Camorra litt fast ebenso wie die Cosa Nostra unter den Bomben in Sizilien und dem Zusammenbruch dessen, was man bereits als Erste Republik bezeichnete.
    Der Camorraboss Pasquale Galasso war ein erstklassiges Beispiel dafür, was es bedeuten kann, in den süditalienischen Hochburgen des organisierten Verbrechens dem gutbürgerlichen Milieu anzugehören. Er war der Sohn eines »geachteten Mannes« aus einer Kleinstadt zwischen Neapel und Salerno. Sein Vater war Grundbesitzer, handelte mit landwirtschaftlichen Produkten, führte ein Handelsunternehmen, das Traktoren und Bagger verkaufte, und sammelte Stimmen für die örtlichen Potentaten der Christdemokraten. Pasquale war noch ein Teenager, als er seinen ersten Ferrari fuhr und sich an der Universität zum Medizinstudium einschrieb. 1975 , mit 20  Jahren, erschoss er zwei Männer. Mit Hilfe der Anwälte seines Vaters wurde Galasso am Ende mit der Begründung freigesprochen, er habe aus Notwehr gehandelt. Doch bis dahin saß er im Poggioreale-Gefängnis ein. Dort nahm ihn der »Professor« Raffaele Cutolo unter seine Fittiche.
    Als Ende der 1970 er Jahre der Krieg mit der
Nuova Famiglia
ausbrach, erhielt Galasso zu Hause Besuch vom »Professor«, der ihn aufforderte, sich der
Nuova Camorra Organizzata
anzuschließen. Galasso weigerte sich, und Cutolo ließ aus Rache einen seiner Brüder ermorden. Daraufhin tat Galasso sich mit der
Nuova Famiglia
zusammen, besonders mit einem Camorrista, dem er ebenfalls im Gefängnis begegnet war: Carmine Alfieri. Der ehemalige Medizinstudent fungierte während des Krieges als Alfieris rechte Hand; gemeinsam sollten die beiden bis an die Spitze der kampanischen Unterwelt aufsteigen. Als in der Villa der Familie Galasso im Oktober 1991 schließlich eine Razzia durchgeführt wurde, fanden die Carabinieri einen Schatz aus gestohlenen Kunstgegenständen, einschließlich des goldenen Throns, der einmal dem letzten Bourbonenkönig von Neapel gehört hatte.
    Im Mai 1992 wurde Galasso festgenommen, als er gerade eine Versammlung von Bauunternehmern und Mitgliedern seines Clans leitete. Weil er den Verdacht hatte, dass seine politischen Freunde mit dem Gedanken spielten, ihn zu verraten, »bereute« er noch im selben Jahr und gestand 40  Morde. Seine Zeugenaussage ermöglichte es der Polizei, die vollständige Geschichte der
Nuova Famiglia
zu rekonstruieren, von ihrer Entstehung bis zu ihrem Zerfall nach dem Sieg über die
Nuova Camorra Organizzata
.
    Ein Tipp von Galasso führte auch zur Verhaftung Carmine Alfieris, der neun Jahre auf der Flucht gewesen war. Ermittler schätzten seinen Reichtum auf 1500  Milliarden Lire – das größte Vermögen in der italienischen Kriminalgeschichte. 2011 käme dies einer Summe von etwa 1 , 2  Milliarden Euro gleich. In Alfieris Bücherregalen fanden sich Werke von Dante und Goethe, mit zahllosen Anmerkungen versehen, und während er Schmiergelder entgegennahm oder Morde in Auftrag gab, hörte er Musik von Bach. Dieser auf stillvergnügte Weise mächtigste Camorrista wurde auf die gefürchtete Gefängnisinsel Pianosa verbannt, vor der toskanischen Küste. Dort fasste er schließlich den Beschluss, nachdem er im Fernsehen die Tirade des Papstes gegen die sizilianische Mafia miterlebt hatte, ein umfassendes Geständnis abzulegen. Daraufhin zerfiel die stärkste Camorraorganisation in Kampanien in ihre Einzelteile.
    Auch Carmine Alfieri und sein Leutnant Pasquale Galasso trugen ihr Scherflein dazu bei, dass das christdemokratische System zerfiel, dessen Bestandteile sie gewesen waren: Sie nannten zahlreiche Politiker, mit denen sie vorgeblich Geschäfte gemacht hatten. Viele dieser Männer gehörten zum politischen Apparat