Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Antonio Gavas, eines ehemaligen Finanz- und Innenministers der Christdemokraten.
    Wie die Cosa Nostra reagierte auch die Camorra mit Gewaltexzessen auf die Bedrohung durch die »Reuigen«. Am selben Tag, als Alfieri zum ersten Mal vor Gericht erschien, dem 8 . April 1994 , begaben sich Killer auf die Suche nach seinem 25 -jährigen Sohn Antonio. Man sagte ihnen, er halte sich im Elternhaus eines Freundes auf. Sie drangen ins Wohnzimmer ein, die Gewehre im Anschlag, und fragten nach dem jungen Alfieri. In einem Anfall von Frust überzog einer der Killer ein abgedunkeltes Schlafzimmer mit einer Gewehrsalve. Als sie schließlich einsehen mussten, dass die Familie tatsächlich nicht wusste, wo ihr Opfer sich aufhielt, verließen sie das Haus. Dabei entführten sie einen entfernten Verwandten Alfieris, der anwesend war. Erst später stellte sich heraus, dass der Überfall ein unschuldiges Opfer gefordert hatte. In dem Raum, den sie beschossen hatten, hatte Maria Grazia Cuomo geschlafen. Sie war 55 , unverheiratet, und ging selten aus dem Haus, weil sie sich für das Feuermal schämte, das einen Großteil ihres Gesichts bedeckte.
    Alfieris Sohn wurde im September 2002 getötet, sein Bruder im Dezember 2004 .
     
    Den vermehrten Druck durch die Behörden bekam auch die ’Ndrangheta zu spüren. Auch in ihren Reihen gab es einen Schwung »Reuiger«, auf deren Bekenntnisse sich wichtige neue Gerichtsverfahren stützten, deren Erinnerungen die Geschichte der ’Ndrangheta beleuchteten und deren Leben die tödliche Macht der kalabrischen Mafia veranschaulichten. Hier zwei Beispiele:
    Giacomo Lauro war der Sohn eines Steinbildhauers, der für Gräber in Brancaleone Statuen und Reliefs schuf. Er war 1960 , im Alter von 18  Jahren, in die ’Ndrangheta eingeführt worden, als die Ehrenwerte Gesellschaft ihre Treffen noch nachts bei Kerzenlicht abhielt und der Tarantella tanzende Triumvir Don ’Ntoni Macrì an der ionischen Küste das Sagen hatte. Nachdem er zwischen 1974 und 1977 im ersten ’Ndrangheta-Krieg gekämpft hatte, wurde Lauro eingesperrt und in die Verbannung geschickt, ausgerechnet ins nördliche Kampanien. Dort tat er sich mit den
Nuova-Famiglia
-Bossen Antonio Bardellino und Carmine Alfieri zusammen und wurde einer der Verbindungsmänner zwischen ’Ndrangheta und Camorra. Während des zweiten ’Ndrangheta-Krieges zwischen 1985 und 1991 war er ein enger Vertrauter Antonio Imertis, der auch der »grimmige Zwerg« genannt wurde. Lauro wurde in Holland festgenommen, wo er sich das Geld für eine Kokainlieferung abholen wollte. In seiner Tasche fand man ein Flugticket nach Kolumbien. Als Falcone und Borsellino ums Leben kamen, kontaktierte er die italienische Botschaft und sagte, er wolle reden. Lauros Aussage war entscheidend für die Rekonstruktion der Geschichte der kalabrischen Mafia seit dem »Pilzesammler«-Treffen 1969 auf dem Montalto. Sie brachte auch Licht in den berühmtesten politischen Mord der ’Ndrangheta – an dem korrupten christdemokratischen Politiker Ludovico Ligato im Jahre 1989 .
    Giovanni Riggio kam vom südlichen Stadtrand Reggio Calabrias. Sein Vater war ein bescheidener Maurer gewesen. 1981 – er war elf Jahre alt – war sein sechsjähriger Bruder bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen. Riggio hatte den Fahrer gesehen. Alle im Viertel kannten ihn. Doch niemand sagte ein Wort. Riggios trauernder Vater wandte sich an die Behörden, erhielt aber keine Hilfe. Eines Tages fragte er den örtlichen Carabiniere, ob er ihm helfen könne. Der Mann zuckte nur die uniformierten Schultern und setzte ihm wortreich auseinander, dass nur der örtliche Boss derartige Dinge regeln könne. Riggios Vater weinte vor Verzweiflung. Von nun an würde sein überlebender Sohn einen brennenden Groll gegen die Polizei und große Bewunderung für die anmaßenden Kriminellen hegen, die in der örtlichen Bar abhingen.
    Als Teenager begann auch Riggio, in der Bar abzuhängen. Nach mehreren Bagatelldelikten hatte er das giftige Gerede von »Respekt« und »Ehre« bereits im Blut. Im September 1987 wurde er mit dem Ritus von Osso, Mastrosso und Carcagnosso in die Gesellschaft eingeführt. Im darauffolgenden Frühjahr lief Riggio zufällig dem Mann über den Weg, der seinen kleinen Bruder überfahren hatte, und erschoss ihn auf der Stelle. »Alle haben es gesehen, und ich dachte sofort: Jetzt verhaften sie mich. Aber das taten sie nicht. Niemand hat auch nur ein Wort gesagt. Niemand. Im Gegenteil: Tags