Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Borsellino hatte den Mammutprozess gemeinsam mit Falcone vorbereitet. Jetzt hatte Sizilien ihn dazu ausersehen, ob er es wollte oder nicht, als das Symbol des Kampfes gegen die Cosa Nostra Falcones Erbe anzutreten. Man hatte ihn informiert, dass der Sprengsatz, der ihm zugedacht war, sich bereits in Palermo befand.
Was seinen Mut umso erstaunlicher macht und das Versäumnis des italienischen Staates, ihn zu beschützen, umso erschreckender.
Am 19 . Juli 1992 detonierte ein Fiat 126 , gespickt mit Sprengstoff, vor dem Haus Paolo Borsellinos in der Via Mariano d’Amelio. Der Richter hatte gerade an der Haustür geklingelt, als er von der Bombe zerfetzt wurde.
Mit Borsellino starben seine fünf Leibwächter, allesamt Freiwillige: Agostino Catalano, Vincenzo Li Muli, Walter Eddie Cosina, Claudio Traina und eine 24 -jährige Beamtin aus Sardinien namens Emanuela Loi. Mehrere Male in den vorausgehenden 56 Tagen war Borsellino allein zum Zigarettenholen aus dem Haus gegangen in der Hoffnung, erschossen zu werden und damit den anderen dasselbe Schicksal zu ersparen.
Borsellinos Frau bestand auf einer privaten Begräbnisfeier, die in derselben Kirche stattfand, in der er am 23 . Juni seinen Nachruf gehalten hatte.
Das Staatsbegräbnis seiner fünf Leibwächter fand in der Kathedrale von Palermo statt. Es artete fast zu einem Aufruhr aus. Die umgebenden Straßen wurden gesperrt, und eine Postenkette verwehrte den Zugang zur Kirche – aus Gründen, die niemand verstand. In der riesigen Menge trauernder Bürger, die ausgeschlossen waren, befanden sich auch Angehörige der toten Beamten. Es wurde gebrüllt, gespuckt, geschubst und gestoßen. Polizisten kämpften gegen Polizisten, und die Leute schrien: »Sie lassen uns nicht bei unseren Toten sitzen.« Ein Augenzeuge kommentierte:
»Der Staat wirkte wie ein Boxer, der benommen in die falsche Richtung schlägt, gegen das Volk. Die Zehntausende Palermitaner, die sich auf der Piazza eingefunden hatten, um gegen die Mafia zu protestieren, wurden behandelt, als störten sie in infamer Weise die öffentliche Ordnung.«
Nach einer Weile brach die Kette, und die Menge strömte in die Kirche. Die Särge von Borsellinos Leibwächtern wurden mit dem vielstimmigen Ruf » GIUS - TIZ - IA , GIUS - TIZ - IA « begrüßt. Gerechtigkeit. Gerechtigkeit. Gerechtigkeit.
Der Zusammenbruch der alten Ordnung
Der Sommer des Jahres 1992 in Palermo war eine Zeit ungläubiger Wut und Verzweiflung. Er war auch eine Zeit großer kultureller und politischer Energie, weil der gesunde Teil der Stadt seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen suchte. Man veranstaltete Demonstrationen, Fackelzüge, Menschenketten … Der Baum vor Falcones Haus in der Via Notarbartolo wurde ein Schrein zum Gedenken an die Helden. In der ganzen Stadt hingen Laken von den Balkonen, mit mafiafeindlichen Parolen: » FALCONE LEBT !«; » WERFT DIE MAFIA AUS DEM LAND !«; » PALERMO FORDERT GERECHTIGKEIT «; » ZORN UND SCHMERZ – WANN HÖRT DAS AUF ?«
Die Stimmen aus Palermo hallten durch eine nationale politische Landschaft, die ein Erdbeben erschütterte. Eine vielschichtige Krise drohte das System aus den Angeln zu heben, das seit 1946 in Kraft gewesen war. Das Ende des Kalten Krieges hatte seine verspäteten Auswirkungen.
Falcone starb am 23 . Mai 1992 , inmitten eines Machtvakuums in Rom. Kurz zuvor hatte die DC
(Democrazia Cristiana)
bei den allgemeinen Wahlen einen Stimmeneinbruch erlebt. »Einsturz der DC -Mauer«, lautete eine Zeitungsschlagzeile. Nach den Wahlen fiel der Auftakt zu einem neuen fünfjährigen Parlamentszyklus mit dem Beginn einer neuen siebenjährigen Amtszeit des Präsidenten der Republik zusammen. Eine Regierungskoalition musste noch gebildet werden, und frisch gewählte Parlamentarier und der Senat waren noch mit der Frage beschäftigt, wer wohl der nächste Staatspräsident sein würde. Giulio Andreotti, schlau wie immer, wartete ab, bis andere Kandidaten ausschieden, ehe er sich selbst ins Spiel brachte. Der Schlüssel zum Quirinale in Rom, dem Sitz des Staatsoberhauptes, hätte den krönenden Abschluss seiner langen Karriere bedeutet.
Schmach und Schrecken um Falcones Tod machten Andreottis Kandidatur jedoch undenkbar. In den kommenden Monaten sollte der mächtigste Politiker im Italien der Nachkriegszeit zunehmend an den Rand gedrängt werden. Statt seiner wurde Oscar Luigi Scalfaro, ein angesehener Christdemokrat und altgedienter Staatsmann ohne »Mafiageruch«, zum
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