Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
bekriegen einander und schließen Bündnisse. Daher haben die meisten dieser Camorras eine kurze Lebensspanne im Vergleich zu den außerordentlich zähen kriminellen Freimaurerbünden Cosa Nostra und ’Ndrangheta. In Kampanien verändern sich die Grenzen auf der Landkarte der Camorra-Macht unentwegt, nach Festnahmen durch die Polizei, nach Revierkämpfen und weil immer wieder Clans zerfallen oder sich verbünden. Ein Anwachsen der Gewalt ist die unvermeidliche Konsequenz dieser fundamentalen Instabilität: Die Camorra tötet weiterhin mehr Menschen als die sizilianische Mafia und die ’Ndrangheta zusammen. In den vergangenen Jahren registrierte man mehrere Ausschläge nach oben, was die Mordraten anbelangt: Von 1994 bis 1998 kam es in jedem Jahr zu über hundert Camorra-Morden; dasselbe gilt für 2004 und 2007 .
Neapel ist eine Hafenstadt. Diese schlichte Tatsache hat die Geschichte der Camorra seit den 1850 er und 1860 er Jahren maßgeblich geprägt, als die Bande Salvatore De Crescenzos importierte Kleidungsstücke an den Wachposten vorbei ins Land schmuggelte und von den Fährleuten, die Passagiere an Land ruderten, Schutzgeld erpresste. Es war im Hafen von Neapel, wo große Mengen an Armeebeständen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg auf dem Schwarzmarkt verschwanden. In den 1950 er Jahren stachen hier die herumziehenden Hausierer in See, als
magliari
bekannt und oft kaum mehr als Betrüger, um die harten Praktiken des neapolitanischen Lumpenhandels den Hausfrauen im Norden Europas nahezubringen. Später fungierte Neapel als das Tor für geschmuggelte Zigaretten und für Drogen. Heutzutage ist der Hafen ein mechanisierter Containerumschlagplatz nach dem Vorbild von Felixstowe oder Rotterdam. Er hat neue Bedeutung gewonnen als ein Tor nach Italien für Erzeugnisse aus Fernost, die durch den Suezkanal ins Mittelmeer verschifft werden. Einige dieser Erzeugnisse – Schuhe, Kleidung und Handtaschen, Elektrogeräte, Mobiltelefone, Kameras und Spielekonsolen – sind gefälschte Versionen bekannter Markenartikel. Die neapolitanische Fälschertradition ist global geworden. Manchmal verbirgt sich hinter den Etiketten »Made in Italy« oder »Made in Germany« eine andere Realität: »Gefälscht in China«. Und statt der
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gibt es nun internationale Händler, konsequent im Ausland stationiert, um Märkte für illegal hergestellte Produkte zu erschließen. Wie umfangreich dieser Geschäftszweig ist und wie groß unter den Geschäftemachern der Anteil der Camorristi, wird derzeit untersucht.
Neapel ist aus vielerlei Gründen ein bemerkenswerter Ort. Einer davon ist die Tatsache, dass das Zentrum der Stadt, während in vielen anderen europäischen Großstädten die traditionellen Armenviertel längst abgerissen oder aufgewertet wurden, noch immer genauso viele Arme beherbergt wie im 18 . Jahrhundert. Das Viertel Forcella, das wir schon des Öfteren besucht haben in dieser Geschichte, ist ein anschauliches Beispiel. Die Camorra entstand in seinen stinkenden und übervölkerten Gassen zu Beginn des 19 . Jahrhunderts. Obwohl sich dort vieles verändert hat, nicht zuletzt die hygienischen Bedingungen, ist das Leben noch immer prekär und gelegentlich sogar gefährlich. Ein Fremder, der diese Straßen betritt, wird das deutliche Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. In diesem und anderen Vierteln wird die Gebietshoheit der Camorra noch immer durch die Jugendlichen deutlich, die Geld für Parkplätze erpressen oder anmaßend auf ihren Motorrollern thronen und dabei als Wachtposten für Drogendealer fungieren.
Trotz des umfassenden wirtschaftlichen Wandels der letzten 150 Jahre findet die Camorra in Gegenden wie Forcella weiterhin Rekruten unter der Bevölkerung, die das Elend und eine weitverbreitete Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesetz empfänglich gemacht haben, genau wie im 19 . Jahrhundert. 2006 ergab eine Studie, dass 22 Prozent der Menschen, die in Kampanien irgendeiner Beschäftigung nachgingen, in der sogenannten »Schattenwirtschaft« arbeiteten – schwarz bezahlt, in bar, und nicht geschützt durch Arbeits- und Sicherheitsgesetze. Es erscheint durchaus plausibel, dass eine greifbare Mehrheit der Beschäftigten kleinerer und mittlerer Unternehmen nicht in den Büchern vermerkt ist.
Der jüngste wirtschaftliche Wandel scheint die Situation verschlimmert zu haben. In Kampanien, wie in einem Großteil des Südens, bedeutete das neue wirtschaftliche Credo oft nur eine Ausweitung der
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