Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
enorm.
Die Bedeutung, die Blutsbande innerhalb der Camorraclans haben, erklärt, warum Frauen, die eng mit der Kerngruppe eines Clans verwandt sind, manchmal wichtige Rollen übernehmen. Anhand von Pupetta Maresca und der großen Schwester des »Professors«, Rosetta Cutolo, sehen wir, dass einige Camorrafrauen schon vor den 1990 er Jahren eine größere Rolle spielten als die Frauen im Umkreis der sizilianischen Mafia oder der ’Ndrangheta. Doch in den letzten beiden Jahrzehnten sind Frauen in der Camorra noch weitaus sichtbarer geworden. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum Ersten haben die Behörden alte Vorurteile abgeschüttelt, die sie blind machten gegen die kriminellen Talente von Frauen. Zum Zweiten haben die Clans wegen des erhöhten Drucks seitens der Polizei mehr Macht an die Frauen delegiert, deren Männer untergetaucht oder hinter Gittern waren. Diese Trends wirken sich auch auf Sizilien und Kalabrien aus, wo die männerzentrierte Freimaurerstruktur der kriminellen Geheimbünde dazu tendiert, der Macht der Frauen Grenzen zu setzen. 1998 übernahm Giusy Vitale die Leitung der Alltagsgeschäfte der Partinico-Familie der Cosa Nostra, als ihr Bruder, der Boss, im Gefängnis saß. Sie ist später zu den Behörden übergelaufen.
Doch es ist kein Zufall, dass ein weiblicher Camorrista, Teresa De Luca Bossa, als erste Frau in Italien den strengeren Haftbedingungen unterworfen war, die nach den Morden an Falcone und Borsellino 1992 eingeführt worden waren. De Luca Bossa war Mutter und Geliebte von Clanführern und verfügte über beachtliche strategische Kenntnisse, Führungsqualitäten und diplomatische Fertigkeiten, so dass sie die Organisation zusammenhielt, nachdem ihre Männer festgenommen worden waren.
Auch haben Sizilien und Kalabrien nichts erlebt, was sich mit dem bösartigen Krieg vergleichen ließe, der 2002 zwischen den Frauen des Graziano- und des Cava-Clans ausgefochten wurde. Am 26 . Mai dieses Jahres jagte ein Exekutionskommando der Grazianos einen Wagen, in dem fünf Frauen aus dem Cava-Clan saßen, und rammte ihn. Im nachfolgenden Blutbad wurden vier Cava-Frauen erschossen, eine fünfte blieb querschnittsgelähmt. Sowohl auf der Seite der Opfer wie auf jener der Täter waren mehrere Generationen von Frauen beteiligt. Die 62 -jährige Ehefrau des Graziano-Bosses, Chiara Manzi, koordinierte den Angriff per Handy; zu den Schützen gehörten ihre Schwiegertochter ( 40 ) und zwei ihrer Nichten ( 19 und 20 ). In aufgezeichneten Telefonaten im Vorfeld des Angriffs spucken diese Frauen Beleidigungen gegen ihre künftigen Opfer: »Zigeunerinnen«, »Drecksäue«.
Die Camorra akzeptiert als einzige Mafia auch Angehörige sexueller Minderheiten in leitenden Positionen. Anna Terracciano ist eines von zwölf Geschwistern aus dem Spanischen Viertel von Neapel – elf davon sind im organisierten Verbrechen tätig. Bekannt als
’o Masculone
(»Riesenkerl«), war sie eine männlich auftretende Lesbe, die eine Waffe trug und sich im Auftrag ihres Clans an militärischen Einsätzen beteiligte. 2006 wanderte sie ins Gefängnis. Drei Jahre später verhaftete die Polizei Ugo Gabriele, von dem die Behörden behaupten, er sei der erste transsexuelle Camorrista überhaupt. Als »Ketty« bekannt, ist Gabriele der jüngere Bruder eines Clanmitglieds, das sich während der Fehde von Scampia in den Jahren 2004 / 2005 von der Organisation des Millionärs losgesagt hatte. Der Polizei zufolge stieg Ketty, als ihr Bruder befördert worden war, vom Dealer, der an seine Freier (sie war eine transsexuelle Prostituierte) Kokain vertickte, zu einem verantwortungsvolleren Posten auf. Kettys Beförderung war nicht nur dem Vertrauen geschuldet, das die Camorra in Blutsbande setzte, sondern vermutlich auch der traditionellen Toleranz in der neapolitanischen Volkskultur gegen männliche Transsexuelle – die sogenannten
femminielli
.
Keine Reise durch die Landschaft des organisierten Verbrechens im heutigen Kampanien wäre komplett ohne einen Besuch der weiten fruchtbaren Ebene im Norden der Stadt, die manchmal als
Terra di Lavoro
(Land der Arbeit) bezeichnet wird. In einem Gedicht aus dem Jahre 1956 beschwor der Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini ihre schaurige Schönheit, von einem Zug aus betrachtet:
»Nun ist es nahe, das Land der Arbeit,
Mit Herden von Büffeln und kleinen
Häuserscharen inmitten Tomatenplantagen,
Von Efeugewächsen gesäumt und von ärmlichen Latten.
Manchmal erscheint in der Rinne
Des
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