Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
dem Gefängnis entlassen), sang ihm ein Lied mit dem Titel »Du bist großartig« und forderte dann zum Beifall »für all unsere Toten« auf. Unterdessen wurde der Boss selbst, in dem blauen Trikot und der weißen Baseballkappe des
Insuperabile
-Teams, von begeisterten Anhängern geküsst.
Ermittlungen der Carabinieri ergaben später, dass das Fest der Lilien schon lange vom Barra-Clan als Plattform genutzt wurde: Unter dem Vorwand, das Geld für ihren Obelisken auszugeben, baten sie Geschäftsleute zur Kasse; die »Paten« des
Insuperabile
-Teams waren Unternehmer, die den Bossen nahestanden, und das Fest diente den Gangstern als Vorwand, um in aller Öffentlichkeit neue Pakte feiern zu können. Als die Nachbarstadt Cercola unter die Kontrolle des Barra-Clans fiel, wurden dortige Ladenbesitzer gezwungen, die blauen und roten Farben des
Insuperabile
-Teams in ihre Schaufenster zu hängen.
Im September 2012 wurde der Obelisk des
Insuperabile-
Teams beschlagnahmt und zerstört, weil nach Meinung des Richters, der die Beschlagnahmung genehmigt hatte,
»(…) die Botschaft, die er aussendet, die versteckte Bedeutung dieses hölzernen Symbols für den Clan von größerem Wert ist als ein ganzes Waffenarsenal. Ihn am Festtag zur Schau zu stellen, bedeutet viel mehr als ein Sieg in der Schlacht, als die physische Vernichtung eines Rivalen: Er ist ein Zeichen der Macht.«
Religiöse Feierlichkeiten in der Gemeinde als Gelegenheit zu nutzen, um kriminelle Macht zu demonstrieren, hat in der Unterwelt Neapels Tradition. Im 19 . Jahrhundert pflegten Camorristi sich die Frühjahrswallfahrt nach Montevergine zu eigen zu machen. Jeder Boss spannte die Pferde an und fuhr, seine in Samt und Seide gehüllte Frau an seiner Seite, mit Sack und Pack in die Berge, gefolgt von seinen Getreuen. Der Pilgerzug wurde von Trinkgelagen unterbrochen, Wettrennen, mehr oder minder stilisierten Messerkämpfen und von Treffen mit den Clans aus dem Umland.
Ähnliches charakterisierte ein Mafialeben in Kalabrien und Sizilien. In Städten und Dörfern, die von der ’Ndrangheta und der Cosa Nostra kontrolliert wurden, trugen die Bosse ihre Macht zur Schau, indem sie sich des Tages bemächtigten, der dem örtlichen Schutzpatron gewidmet war. Barra ist bei weitem nicht der einzige Ort, wo die Tradition bis zum heutigen Tag fortgeführt wird. In Sant’Onofrio erregte 2010 der Priester vor Ort den Unmut der ’Ndrangheta, weil er sich unterstand, der Anweisung seines Bischofs gemäß die Gangster daran hindern zu wollen, in der Osterparade die Madonnen zu tragen: Das Oberhaupt der Bruderschaft, das die Feierlichkeit leitete, erhielt eine Warnung, als zwei Schüsse auf seine Eingangstür abgefeuert wurden. Das Fest wurde eine Woche verschoben, und als es endlich stattfand, rückten die Carabinieri in großer Zahl aus.
Hat sich also nichts verändert in Kampanien? Ist die Camorra noch immer die Macht, die sie einmal war? Eine »Landkarte der Camorramorde« in den vergangenen Jahrzehnten würde mit Sicherheit an exakt denselben Orten eine große Konzentration von Punkten aufweisen, die bereits seit dem 19 . Jahrhundert im Zusammenhang mit Camorraverbrechen genannt worden waren: die Stadt Neapel und ein halbkreisförmiger Aktionsradius von etwa 40 Kilometern um die Städte und Dörfer des Hinterlands. Ein bleibendes Muster ist unverkennbar. Doch sobald wir uns die Karte detailliert betrachten, wird klar, dass die Kontinuitäten weniger vorherrschend sind als es zunächst den Anschein hatte, weniger vorherrschend jedenfalls als in Sizilien und Kalabrien, wo die Mikro-Territorien, die Mafia-
cosche
abstecken, nahezu identisch geblieben sind. Orte wie Rosarno und Platì (’Ndrangheta), oder Villabate und Uditore (Cosa Nostra) sind seit mehr als hundert Jahren berüchtigt. In Kampanien dagegen hat die Geographie der Unterwelt in letzter Zeit einige wichtige Veränderungen erfahren.
Nach dem Krieg zwischen Raffaele dem »Professor« Cutolo und den verbündeten Clans der
Nuova Famiglia
zu Beginn der 1980 er Jahre zerfiel die Camorra in Splittergruppen. 1988 gab es geschätzte 32 Camorraclans; 1992 waren es bereits 108 . Die Jahre der Zweiten Republik brachten keine Umkehr dieses Prozesses. Die jüngsten Schätzungen legen nah, dass es noch immer an die hundert ernstzunehmende kriminelle Organisationen in Kampanien gibt, wo die Unterwelt ein bleibendes, aber instabiles Muster angenommen hat. Die Clans kommen und gehen, verschmelzen und zerfallen,
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