Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Schattenwirtschaft. Seit 2008 hat die Wirtschaftskrise in Europa der Camorra in die Hände gearbeitet (im Übrigen auch der Cosa Nostra und der ’Ndrangheta). Die Region ist in einem Teufelskreis wirtschaftlichen Scheiterns gefangen. Im Sommer 2009 argumentierte Mario Draghi, der damalige Leiter der
Banca d’Italia
folgendermaßen:
»Unternehmen sehen, wie ihr Cashflow versiegt und ihr Vermögen an Verkehrswert verliert. Beide Entwicklungen arbeiten dem organisierten Verbrechen in die Hände (…) In Ökonomien mit einer hohen Kriminalitätsrate zahlen Unternehmen höhere Kreditkosten, und die Unterwanderung der Lokalpolitik zerstört das gesellschaftliche Kapital: Immer mehr junge Leute verlassen die Region, und fast ein Drittel dieser jungen Leute sind Hochschulabsolventen, die auf der Suche nach besseren Möglichkeiten in den Norden abwandern.«
In schweren Zeiten sind nicht nur zwielichtige Unternehmen leichte Beute für Kredithaie und Erpresser, für Gangster, die einen Handelsplatz für gestohlene Waren suchen oder eine Möglichkeit, Drogengeld zu waschen. Beim Rauschgifthandel liegt es in der Natur der Sache, dass Gangster viel Bargeld besitzen – und gerade im Augenblick bemühen sich die Unternehmer Süditaliens noch mehr als alle anderen, an Kredite heranzukommen. In schweren Zeiten ist Bargeld Trumpf.
Die ungebrochene Stärke der Camorra, aus den Schwächen der neapolitanischen Wirtschaft Profit zu ziehen, hat dazu beigetragen, das kriminelle Gefüge neu zu formen. Früher, als Neapel noch eine Industriestadt war, pflegten Fabrikarbeiter sich traditionellerweise zu organisieren und sozialistische Ideale hochzuhalten, die sie immun machten gegen den Infekt Camorra. Heute sind die Fabriken weitgehend verschwunden, und die Camorra hat sich auch in Vierteln wie Bagnoli ausgebreitet, wo in den neunziger Jahren das Stahlwerk schließen musste.
Heute konzentriert sich die städtische Camorrawirtschaft außerdem nicht länger auf die alten Elendsviertel im Stadtzentrum. Die größten Konglomerate aus Armut und Illegalität haben das Neapel, wie es Touristen kennen, mittlerweile verlassen. Sogar die Camorra in Forcella hat die Kraft des Neuen gespürt. Der Giuliano-Clan (mit Diego Maradona befreundet) ist durch Morde, Überläufer und Festnahmen auseinandergebrochen. Die mächtigsten und gefährlichsten Clans entstehen heute in den wuchernden Vorstädten, in Gegenden, die in den 1970 er Jahren und nach dem Erdbeben von 1980 anarchisch wuchsen. Die Werkstätten im Labyrinth des Stadtzentrums können nicht mit den ausbeuterischen Betrieben der Vorstädte konkurrieren, was den Ausstoß illegaler DVD s und gefälschter Markenkleidung angeht. Im Zuge der Modernisierung von Neapels Infrastruktur und öffentlichem Verkehrsnetz ist es für Drogenabhängige preisgünstiger geworden, sich ihren Schuss in den großen Drogensupermärkten zu besorgen, die in den hässlichen Wohnblocks von Secondigliano oder Ponticelli beheimatet sind, als die kleinen Dealer in den
Quartieri Spagnoli
aufzusuchen.
Das erste Fragment Stadtarchitektur, das einem beim Wort »Camorra« sofort in den Sinn kommt, ist längst nicht etwa das Forcella-Viertel mit seinen engen Gassen, sondern ein katastrophal misslungenes Wohnbauprojekt im Vorort Scampia. Bekannt als »Le Vele«, besteht es aus einer Reihe mächtiger, dreieckiger Apartmentblocks, erbaut in den sechziger und siebziger Jahren, die das eng verflochtene Gemeinschaftsleben im Stadtzentrum auf vielen Etagen nachbilden sollten. Das Ergebnis, mit seinen hässlichen, finsteren und unsicheren Räumen und Plätzen, wirkt eher wie ein Hochsicherheitsgefängnis ohne Wachtposten. Die Gebäude wurden sehr schlecht gebaut: Die Aufzüge funktionierten nicht, der Beton bröckelte, die Dächer waren undicht, und die Nachbarn konnten noch hören, was drei Stockwerke tiefer vor sich ging. Diese Probleme rückten Le Vele in die Nähe der Kategorie Slum, als verzweifelte Erdbebenflüchtlinge 1980 illegal leerstehende Wohnungen besetzten – einige noch vor ihrer Fertigstellung. Bald schon wurden die Bewohner von einer Minderheit von Camorristi belagert, die mit Drogen dealten. Die Präsenz der Polizei bestand aus sporadischen und weitgehend symbolischen Patrouillen. Einige Beamte, sagen Anwohner, hätten Schmiergelder kassiert und ließen die Drogendealer in Ruhe. Ein langjähriges Projekt, Le Vele räumen und abreißen zu lassen, traf auf eine schleppende politische Umsetzung. Während ich dies
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