Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
’Ndrangheta lassen sich unterirdische Bunker bauen in der Hoffnung, dort den entschlossenen und kundigen Mafiajägern zu entgehen. Einige dieser Bunker sind nur geheime Räume in einem Haus: Schlupflöcher, in denen ein Flüchtiger verschwinden kann, wenn es unerwartet an der Haustür klingelt. Andere sind außergewöhnlich einfallsreich und raffiniert konzipiert – Miniaturwohnungen gleich, komplett mit Sanitäranlagen, Luftzufuhr und Sicherheitskameras. Die meisten verstecken sich zwischen gewöhnlichen Häusern und Gehöften oder auf Industrieanlagen und verfügen über Geheimgänge und bewegliche Wände. ’Ndranghetisti sind wahre Bunkerspezialisten. Der Bellocco-Clan aus Rosarno versenkte ganze Schiffscontainer, die im Inneren vollständig möbliert und an der Oberseite durch die Vegetation getarnt waren, in der Erde. Die Stadt Platì in Kalabrien ist komplett untertunnelt: Kreuz und quer verlaufen Gänge und verbinden die Häuser der Bosse mit einem Komplex aus Bunkern und Fluchtwegen. Die ’Ndrangheta hatte zur Errichtung ihres geheimen Bunkernetzes sogar die Straße aufgegraben; die Stadt schwieg dazu.
Die heutigen Mafiabunker, egal in welcher Form, sind nicht nur Verstecke, sondern auch Kommandozentralen. Sie entstehen stets auf dem Territorium eines Bosses, der so auf ein enges Netz aus Familienangehörigen und Freunden zählen kann, die für seine täglichen Bedürfnisse sorgen und, was wesentlich ist, Anweisungen und Anfragen hin und her befördern. Territoriale Kontrolle ist nach wie vor von maßgeblicher Bedeutung für die Bosse der drei größten kriminellen Organisationen. Wie ein Mafiajäger der Carabinieri erklärt:
»Die oberste Regel für einen Boss lautet, niemals sein Revier im Stich zu lassen. Davonzulaufen, um der Justiz zu entgehen, ist ein Zeichen von Schwäche. Sobald der Thron leer ist, treten seine Konkurrenten auf den Plan und versuchen durch Mauscheleien und Intrigen seinen Platz einzunehmen.«
»La presenza è potenza«, wie Mafiosi sagen: Anwesenheit ist Macht.
Die Bunker, in denen einige Bosse jetzt ihre territoriale Präsenz zu bewahren suchen, sind nicht ohne Beispiel in der Geschichte der Mafias: Auf Sizilien, während der Zeit des Faschismus, entdeckte die Polizei auf der Suche nach Mafiosi eine Reihe von raffinierten geheimen Räumen und unterirdischen Verstecken. Dennoch sind diese Bunker ein wichtiges Indiz für den Druck, unter dem die Mafias mittlerweile stehen. Bis zu den 1980 er Jahren sah man die gefürchteten Piromallis von Gioia Tauro noch den Stadtplatz dominieren, weil sie ihre Autorität zur Schau stellten. Damit ist es nun vorbei. Der Staat meint es ernster denn je mit dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen, und so hat sich die Unterwelt in den Untergrund verzogen.
Sizilien ist nach wie vor der Ort, wo der Kampf gegen die Mafia am weitesten fortgeschritten ist. Und die gesunkene Zahl der Tötungsdelikte ist ein klares Indiz für diese Tatsache. 2009 gab es auf der Insel 19 Morde im Umfeld der Mafia, 2010 noch acht und 2011 nur noch drei. Ein historischer Tiefstand. Die niederschmetternde Zahl der Opfer in den 1980 er Jahren scheint eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Camorra: Eine Geographie der Unterwelt
Im September 2011 haben Journalisten des Nachrichtenmagazins
L’Espresso
in Barra, einer Vorstadt von Neapel, heimlich eine Machtdemonstration der Unterwelt gefilmt. Wer sich mit der Geschichte der Camorra beschäftigt hat, dem liefert der Film den deprimierenden Beweis für eine zähe Kontinuität.
Hintergrund war das Fest der Lilien, eines von mehreren religiösen Festen in der Region. Die fraglichen »Lilien« sind in Wahrheit 25 Meter hohe, mit Pappmachéskulpturen verzierte Holzobelisken. Sie werden von stolzen Freiwilligenteams, den sogenannten »Mannschaften«, gebaut und geschultert. Als Sponsor fungiert ein lokaler Grande, der als »Pate« bekannt ist. Die Mannschaften konkurrieren miteinander, versuchen mit einem Zeremonienmeister, Musik und Tanz möglichst viele Menschen zu ihrer Lilie zu locken. Der Film, der auf der Website des Nachrichtenmagazins
L’Espresso
veröffentlicht war, zeigte die Vorgänge rings um eine spezielle Lilie, deren Mannschaft sich selbst
Insuperabile
, »unbezwingbar«, nannte: Zuerst kam der Vater des örtlichen Camorrabosses zu den Saxophonklängen des
Paten
in einem offenen weißen Sportwagenklassiker angefahren. Unter dem Jubel der Menge begrüßte der Zeremonienmeister den Boss Angelo Cuccaro (unlängst aus
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