Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
aufzudrücken, und die Sizilianer erwiesen sich in politischer Hinsicht als viel zu uneins untereinander, um selbst den inneren Frieden zu sichern. Früher einmal, vor Einführung des Polizeiwesens, hatten Privatarmeen, die den Grundbesitzern verpflichtet waren, auf einem Großteil der Insel für Ordnung gesorgt. Zu Beginn des 19 . Jahrhunderts, ungeachtet des Versuchs, eine zentralisierte, moderne Polizeitruppe einzuführen, hatte die Lage sich immer weiter zugespitzt. Nur allzu oft war die neue Polizei, anstatt unparteiisch dem Gesetz Geltung zu verschaffen, bloß eine von vielen rivalisierenden Gewaltquellen – Schläger in Uniform sozusagen. Neben den Polizisten gab es Privatarmeen, Banditenhaufen, bewaffnete Vater-Sohn-Banden, lokale politische Fraktionen, Viehdiebe: Sie alle mordeten, stahlen, erpressten und bogen sich die Gesetze nach eigenem Gutdünken zurecht.
Zu allem Übel durchlebte Sizilien gerade die Unruhen, die mit dem Übergang vom feudalistischen zum kapitalistischen System einhergingen. Der Grundbesitz würde fortan nicht mehr nur vom adeligen Vater auf den erstgeborenen Sohn übergehen. Von nun an konnte Land auf dem freien Markt erworben und veräußert werden. Der Reichtum wurde mobiler denn je. Im Westen Siziliens gab es weniger Großgrundbesitzer als im Osten, und der Markt für den Erwerb von Grund und Boden, besonders für dessen Pacht und Nutzung, war hier mehr in Bewegung. Hier konnte man es ohne weiteres zu Wohlstand bringen – solange man mit der Flinte umzugehen und sich gute Freunde im Rechtswesen und der Politik zu kaufen wusste.
In den 1830 er Jahren gab es bereits erste Hinweise darauf, welches kriminelle Geschäftsmodell sich als siegreich erweisen würde. In Neapel gingen die Mitglieder patriotischer Vereinigungen ein Bündnis mit den Straßenschlägern der Camorra ein. Doch im gesetzlosen Sizilien wurden die revolutionären Bruderschaften, wie aus verstreuten Dokumenten hervorgeht, manchmal selbst straffällig. Ein offizieller Bericht aus dem Jahr 1830 handelt von einer Kohlenbrennervereinigung, die sich gewaltsam öffentliche Aufträge verschaffte. 1838 erstellte ein Untersuchungsrichter des Bourbonenkönigs in Trapani ein Dossier, in dem von sogenannten »sektenartigen Vereinigungen oder Bruderschaften« die Rede war: Diese Vereinigungen bildeten »kleine Regierungen innerhalb der Regierung« und seien eine Verschwörung gegen eine effiziente Staatsverwaltung. Waren diese Vereinigungen bereits die Mafia oder zumindest Vorläufer davon? Schon möglich. Doch die Dokumente sind schlicht zu fragmentarisch und tendenziös, um sicher darüber Auskunft zu geben.
Die Verhältnisse auf Sizilien schienen sich weiter zu verschlechtern, nachdem die Insel 1860 ein Teil des geeinten Italien geworden war. Die Regierungen der Rechten stießen hier mit ihren Bemühungen, wieder geordnete Zustände herzustellen, auf noch gravierendere Probleme als im übrigen Süden. Ein Großteil der politischen Klasse Siziliens befürwortete dessen Autonomie innerhalb des Königreichs Italien. Doch die Rechte hatte große Bedenken, diese Autonomie zu gewährleisten. Wie sollte Sizilien die eigenen Belange regeln, argumentierte man, wenn die politische Landschaft mit einer Parade von Volksdämonen angefüllt sei? Mit einer reaktionären Geistlichkeit, die den Bourbonenkönigen nachtrauere; mit Revolutionären, die eine Republik schaffen wollten und zu diesem Zweck sogar gewillt seien, sich mit Schurken zu verbünden; auf kommunaler Ebene mit politischen Cliquen, die sich durch Raub, Mord und Entführung an die Macht brachten? Die einzige Alternative der Rechten zur Autonomie war die Verhängung des Ausnahmezustands. Die Rechte regierte Sizilien mit eiserner Faust und erhobenem Zeigefinger. Dafür wurde sie gehasst.
1865 kamen erste Meldungen über die »sogenannte Maffia oder kriminelle Vereinigung«. Die Maffia sei mächtig und stark mit der sizilianischen Politik verflochten, berichtete ein Regierungsbevollmächtigter. Was auch immer dieses neue Wort »Maffia« oder »Mafia« bedeutete (schon die Unsicherheit in der Schreibung war symptomatisch für das Unwägbare daran), die Regierung hatte jedenfalls einen ausgezeichneten Vorwand, um wieder einmal scharf durchzugreifen: Schon bald kam es zu Massenverhaftungen von Fahnenflüchtigen, Drückebergern und mutmaßlichen
maffiosi
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Am 16 . September 1866 , einem Sonntag, zahlte die Rechte schließlich den Preis für den Hass, der ihr auf Sizilien
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