Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
entgegenschlug. An jenem Morgen bekam Italien – und die Geschichte – zum ersten Mal die Meute zu Gesicht, die heute die meistgefürchtete kriminelle Vereinigung auf der ganzen Welt ist.
Palermo 1866 . Zwei rechtwinklig verlaufende Straßen, gesäumt von einstmals stattlichen Palästen und Kirchen, zerschnitten die Stadt in vier Viertel. Von einem Ende zum anderen brauchte man zu Fuß jeweils etwa 15 Minuten. Im Zentrum der Stadt, wo sich beide Achsen kreuzten, befand sich die Piazza Quattro Canti. Die Via Maqueda führte von hier aus in nordwestlicher Richtung auf die einzige Lücke in der die Stadt umschließenden Bergkette zu. Palermos einzige richtige Vorstadt, der Borgo, begann unweit der Porta Maqueda und verlief entlang der nördlichen Küste. Der Borgo verband die Stadt mit ihrem Hafen und den hoch aufragenden, befestigten Mauern des Ucciardone-Gefängnisses.
Palermos zweite Hauptverkehrsader, der Cassaro, verlief von der Bucht aus landeinwärts, überquerte die Piazza Quattro Canti, führte vorbei am massiven Bau des Palazzo Reale und verließ die Stadt im Südwesten. Nach einer Weile erklomm sie die Flanke des Monte Capute auf die Stadt Monreale zu, die berühmt war für ihre Kathedrale mit dem goldenen, mosaikverzierten Gewölbe, beherrscht von der Gestalt des »Pantokrators« – Christus in seiner gütigen Allmacht als Herrscher des Universums.
Die berückende Schönheit im Inneren der Kathedrale von Monreale entsprach jener der Umgegend: Von der Anhöhe aus konnte man den Blick schweifen lassen über den Landstrich, der Palermo von den Bergen trennte: eingerahmt vom Blau der Bucht das glänzende Grün der Orangenhaine, dazwischen als graue Sprenkel die Olivenbäume; eingeschossige Häuschen, deren weiße Mauern zwischen dem Laub hervorleuchteten, Wassertürme, die in den Himmel wiesen. Dies war die Conca d’Oro (das »goldene Becken«).
Mehr als jeder andere Aspekt von Palermos Schönheit war es die Conca d’Oro, die der Stadt den Beinamen
la felice
, »die Glückliche«, eingebracht hatte. Doch ein Fremder, töricht genug, um über die Feldwege der Conca d’Oro zu schlendern, hätte schnell entdeckt, dass irgendetwas hinter dieser paradiesischen Fassade ganz entschieden faul war. Vielerorts entlang den Mauern, die die Orangenhaine umgaben, bezeichnete ein hölzernes Kreuz mit einer primitiven Inschrift die Stelle, wo jemand ermordet worden war, weil er den Behörden ein Verbrechen verraten hatte. Die Conca d’Oro war der gesetzloseste Ort auf der gesetzlosen Insel Sizilien; sie war der Geburtsort der sizilianischen Mafia.
Als daher am Morgen des 16 . September 1866 der Verdruss Palermo heimsuchte, war niemand überrascht, dass er seinen Ursprung in der Conca d’Oro hatte. Genauer gesagt kam er die lange, gerade, staubige Straße von Monreale heruntermarschiert, durchquerte die Zitrusgärten und passierte den Palazzo Reale. Die Vorhut der Revolte bildete ein Trupp aus Monreale; er umfasste an die 300 Männer, die meisten davon mit Jagdgewehren bewaffnet. Sie trugen Kord und Barchent, wie für Bauern und Tagelöhner üblich. Ähnliche Trupps marschierten von den Dörfern in der Conca d’Oro und aus den Städtchen der umliegenden Berge auf Palermo zu. Einige der Männer trugen Mützen, Schals und Fahnen im Rot der Republikaner oder Banner mit dem Bildnis der Schutzheiligen der Stadt, der heiligen Rosalia.
Noch vor sieben Uhr schreckten Musketenschüsse und Geschrei sogar die tiefsten Schläfer in den entlegensten Winkeln Palermos aus den Betten. Zunächst herrschte Verwirrung. Doch die städtischen Massen ergriffen schnell die Gelegenheit, ihrer Enttäuschung Luft zu machen.
Siebeneinhalb Tage verstrichen, bis das Militär die Ordnung wiederhergestellt hatte. Siebeneinhalb Tage, in denen Barrikaden in den Straßen errichtet, Waffenlager und offizielle Gebäude geplündert, in denen Polizeireviere und Gerichtshöfe überfallen und Akten verbrannt wurden, und in denen ehrbare Bürger im eigenen Heim mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt oder gezwungen wurden, mit Geldgaben den Aufstand zu unterstützen.
Die Revolte im September 1866 kam zur Unzeit für die nationale Moral der Italiener. Einer der Gründe für den anfänglichen Erfolg der Rebellen bestand in der Tatsache, dass Palermo nur mit einer kleinen Garnison belegt war. Alle verfügbaren Streitkräfte waren an die Landesgrenze im Nordosten Italiens verlegt worden, wo die Österreicher den Italienern in den Schlachten von Custoza und
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