Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
die Ritzen im sozialen Gefüge nach oben gekrochen, um die repräsentativen Institutionen des Königreichs Italien zu befallen. Nach all den Intrigen um die italienische Einigung war die Camorra nicht mehr nur dort ein Problem, wo der Staat keinen Zugriff hatte: Sie war innerhalb des Staates zum Problem geworden.
1864 wurde Marc Monnier, der so viel dazu beigetragen hatte, Lesern in ganz Italien die Camorra zu erklären, auf die Empfehlung eines Freundes und patriotischen Helden hin zum Ehrenbürger ernannt. Dieser Freund war Gennaro Sambiase Sanseverino, Herzog von San Donato. Dieser hatte in den 1850 er Jahren Kerkerhaft und Verbannung kennengelernt. 1860 , unter Liborio Romano, war er zum Oberst der Nationalgarde ernannt worden. Nach dem Volksentscheid, während Silvio Spaventas Feldzug gegen die Camorra, erhielt San Donato die Leitung über die städtischen Theater; während er seinen Pflichten nachkam, rammte ein Camorrista ihm vor dem Teatro San Carlo ein Messer in den Rücken. Wir wissen nicht, warum die Camorra San Donato nach dem Leben trachtete, aber wir können es erahnen, weil wir dem Herzog bereits begegnet sind: Er war der »neapolitanische Herr« und patriotische Verschwörer, der Monnier von seinem geheimen Treffen mit den Camorrabossen in den 1850 er Jahren erzählt hatte. Er war einer der Köpfe hinter dem Bündnis der Patrioten mit der Ehrenwerten Gesellschaft. San Donato überlebte und war von 1876 bis 1878 Bürgermeister von Neapel und eine Schlüsselfigur in dem trägen politischen Korruptionsgeflecht bis zum Ende des Jahrhunderts. Die Camorra war Teil seines Netzwerks. San Donato wurde, was Liborio Romano, der »Erlöser« der Camorra, hätte werden können, wäre er nicht 1867 verstorben.
Marc Monnier hatte die Intrigen der 1850 er und frühen 1860 er Jahre mit der Gelassenheit eines trägen Teilchens inmitten einer heftigen chemischen Reaktion überstanden. Nachdem er zum Ehrenbürger ernannt worden war, gab es wenig, worüber es in Italien noch zu schreiben gelohnt hätte, und so verkaufte er das Hôtel de Genève und übersiedelte mit seiner jungen Familie in die Schweiz. Endlich konnte er sein Bestreben verwirklichen und statt eines neapolitanischen Hoteliers ein Genfer Schriftsteller sein. Er schrieb noch eine Vielzahl journalistischer Beiträge (des Geldes wegen) und Theaterstücke (der literarischen Unsterblichkeit wegen). Doch keines seiner Werke hatte auch nur annähernd so viel Erfolg wie sein Buch über die Camorra.
Italien wurde zwischen 1860 und 1876 von einer lockeren Koalition regiert, die als die Rechte bekannt war. Die Anführer der Rechten waren charakteristischerweise konservativ gesinnte Grundbesitzer und Verfechter der freien Marktwirtschaft; sie befürworteten Strenge im Finanzwesen und in der Anwendung des Gesetzes; sie bewunderten Großbritannien und waren der Überzeugung, das Wahlrecht stehe nicht der Allgemeinheit zu, sondern sei eine Verantwortung, die mit Grundbesitz einherging. (Dementsprechend besaßen bis zum Jahre 1882 nur etwa zwei Prozent der italienischen Bevölkerung das Wahlrecht.)
Die Männer der Rechten stammten zudem größtenteils aus dem Norden. Das Problem, mit dem sie während ihrer Regierungszeit im Süden konfrontiert waren, bestand in der Tatsache, dass es viel zu wenig Süditaliener vom Schlag eines Silvio Spaventa gab. Zu wenig Männer in anderen Worten, die die Werte der Rechten teilten.
Der Kampf der Rechten gegen die neapolitanische Camorra hörte mit Spaventas würdelosem Abgang aus der Stadt im Sommer 1861 nicht auf. 1862 wurden weitere Camorristi ausgehoben. Im Herbst desselben Jahres wurde Spaventa in Turin zum stellvertretenden Innenminister ernannt und fing erneut an, Informationen über die Ehrenwerte Gesellschaft zu sammeln. Während Marc Monnier mit seinem Werk
Die Camorra
das Thema einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führte, erwirkte Spaventa, dass die Camorra auf die Liste eines neuen parlamentarischen Untersuchungsausschusses gesetzt wurde. Diese sollte sich mit dem sogenannten »Großen Brigantenunwesen« befassen, einer Welle von Bauernunruhen und Banditentum, die weite Bereiche des süditalienischen Hinterlands überspült hatte. Das Ergebnis der Ermittlungen war ein drakonisches Gesetz, das im August 1863 in Kraft trat – die größte Fehlentscheidung in der Geschichte von Spaventas Feldzug gegen die Camorra und in der gesamten Regierungszeit der Rechten. Es handelte sich um das »Zwangsexil«.
Das neue Gesetz
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