Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
unverzichtbaren Bestandteil des Kapitalismus einher, dem Risiko. In der Conca d’Oro trug das Risiko Kordhosen.
Die Mafiosi im Hinterland von Palermo lernten die Kunst der Schutzgelderpressung, indem sie Obstgärten verwüsteten oder mit deren Verwüstung drohten. Anstatt aus Flöhen pressten sie das Gold aus Zitronen. Die Bandbreite, die ihnen zur Verfügung stand, war vielfältig: Sie konnten Bäume fällen, Landarbeiter einschüchtern, den Bewässerungskanälen zur Unzeit das Wasser abgraben, Landbesitzer und deren Angehörige entführen, Großhändler und Fuhrkutscher bedrohen und so weiter. Die Mafiosi trugen demnach unterschiedliche Hüte: Sie wiesen sie aus als jene, die die Schleusen der kostbaren Bewässerungskanäle kontrollierten; als die Wachen, die nachts die Plantagen schützten; als die Händler, die die Zitronen auf den Märkten feilboten; als die Geschäftsführer, die die Plantagen im Auftrag der Landbesitzer verwalteten; und gleichzeitig als die Banditen, die Bauern entführten und ihnen die wertvolle Ernte stahlen. Indem sie mit der Linken das Risiko schufen und mit der Rechten Schutz boten, konnten Mafiosi das Geschäft mit den Zitrusfrüchten auf zahllosen Wegen unterwandern und manipulieren. Einige von ihnen, wie Turi Miceli, sicherten sich den Weg zum Besitz eines Zitronenhains sogar mit Hilfe von Vandalismus und Mord.
Der Mafioso Turi Miceli war demnach sowohl Verbrecher als auch Plantagenbetreiber. Doch wie die Ereignisse im September 1866 zeigten, war er zudem ein Revolutionär – genau wie die anderen Mafiabosse der Frühzeit. Siziliens Revolutionen lieferten den Treibstoff, der für den Aufstieg der Mafia maßgeblich war.
Denn sobald rebelliert wurde, was regelmäßig der Fall war, begünstigten die Unruhen die kriminellen Machenschaften. Der typische Mafioso hatte diese Tatsache besser begriffen als der typische Camorrista. Die unvermeidlichen Revolutionswirren boten Männern wie Turi Miceli die Gelegenheit, Gefängnisse aufzubrechen, Vorstrafenregister zu verbrennen, Polizisten und Polizeispitzel zu töten und wohlhabende Leute, die mit dem gestürzten Regime in Verbindung gestanden hatten, auszurauben und zu erpressen. Sobald der Aderlass vollzogen war, gewährten die neuen Revolutionsregierungen, deren Anführer durchsetzungsstarke Leute brauchten, mächtigen Männern, die unter der alten Ordnung »verfolgt« worden waren, Amnestien. Auf Sizilien, mehr noch als in Neapel, war die Revolution ein Versuchslabor des organisierten Verbrechens und für so manch einen Ganoven die Startrampe für den gesellschaftlichen Aufstieg.
Turi Micelis opportunistisches Rebellentum während des
Risorgimento
war atemberaubend. Als im Januar 1848 die Revolution gegen die Bourbonen ausgebrochen war, war Miceli ein berüchtigter Bandit gewesen – in anderen Worten, er lebte von Viehdiebstahl und bewaffnetem Raub. Doch ergriff er mit eindrucksvoller Kühnheit die Gelegenheit, die sich ihm durch den Aufstand bot: Sein Trupp, in der Mehrzahl Obstbauern, setzte die Bourbonengarnison in Monreale gefangen und zog dann hügelabwärts nach Palermo. Dort wurde Miceli in Gedichten gefeiert und in amtlichen Depeschen gelobt, weil er unweit des Palazzo Reale eine Kavallerieeinheit der Bourbonen besiegt hatte. Trotz verstörender Berichte über Gewaltverbrechen, die seine Männer begangen hatten, wurde Miceli von der neuen Revolutionsregierung zum Oberst befördert. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil seine gedungenen Schläger die Versammlung stürmten, bei der die Offiziere gewählt wurden. Der Bandit aus Monreale hatte »seine Jungfräulichkeit wiedererlangt«, wie es in Sizilien heißt.
Im Jahr darauf, als die Revolution sich allmählich auflöste und bourbonische Truppen nach Palermo vorrückten, wechselte Miceli prompt die Seiten: Er durchstreifte die Hauptstraßen und Verteidigungsgräben und überredete die Bevölkerung, keinen Widerstand zu leisten. Die bourbonischen Behörden, wieder an der Macht, vergalten es ihm mit erneuter Jungfräulichkeit: Er wurde amnestiert und durfte sich die Taschen füllen. Zunächst wurde er zum Zollbeamten ernannt, erhielt 30 Dukaten im Monat und den Befehl, mit einem Trupp Männer auf einem langen Küstenstreifen im östlichen Sizilien Patrouillen durchzuführen. Vermutlich konfiszierte er Schmuggelware und kassierte gleichzeitig saftige Bestechungsgelder. Bald darauf erhielt er die Erlaubnis, in Lercara Friddi, einer Stadt mit Schwefelminen und nicht allzu weit
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