Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
vom August 1863 räumte kleinen Gremien von Regierungsbeamten und Richtern die Macht ein, bestimmte Kategorien von Verdächtigen ohne Gerichtsverfahren aus dem Verkehr zu ziehen. Die Strafe, die sie verhängen durften, war das Zwangsexil – womit die Verbannung in eine Strafkolonie auf einer felsigen Insel vor der italienischen Küste gemeint war. Dank Spaventa standen auch Camorristi auf der Liste derer, die man auf diese Weise willkürlich ihrer Freiheit berauben konnte.
Das Zwangsexil diente dazu, der Camorristi Herr zu werden, weil ihnen mit normalen Mitteln schwer beizukommen war. Dies lag nicht zuletzt an ihrem Talent, Zeugen einzuschüchtern, und der Gewissheit, sich auf Beschützer in der Oberschicht der neapolitanischen Gesellschaft berufen zu können. Doch in diesen Strafkolonien hatten Camorristi die Möglichkeit, ihren üblichen Geschäften nachzugehen und zudem jüngere Insassen in abgebrühte Verbrecher zu verwandeln. 1876 arbeitete ein Armeearzt drei Monate lang in einer typischen Strafkolonie der Adria.
»Einige der Sträflinge verlangen von den übrigen Respekt und grenzenlose Verehrung. Tag für Tag kaufen und verkaufen sie und mischen sich ein, ohne Hass oder Rivalität zu provozieren. Ihr Wort ist üblicherweise Gesetz und jede ihrer Gesten ein Befehl. Sie nennen sich Camorristi, haben eigene Regeln und Rituale und gehorchen eigenen Anführern. Ihr Aufstieg richtet sich nach der Gemeinheit ihrer Taten. Sie alle haben die vorrangige Pflicht, über jedes ihrer Verbrechen zu schweigen und Befehlen von oben mit blindem Gehorsam Folge zu leisten.«
Das Zwangsexil wurde zur wichtigsten Waffe der Polizei gegen verdächtige Ganoven. Doch anstatt Italiens Probleme mit dem organisierten Verbrechen zu lösen, wie Silvio Spaventa es sich erhofft hatte, erwies sich die Maßnahme letztlich sogar als kontraproduktiv.
1865 , ehe die Fehlentscheidung erkannt wurde, erreichten Gerüchte über eine weitere Verbrechersekte die rechte Regierung – über »die sogenannte Maffia« auf Sizilien. Die Mafia sollte bald die neuen Regierungsgremien Italiens durchdringen, und das weitaus gründlicher als die Camorra in Neapel. So gründlich, dass sich bald nicht mehr sagen ließ, wo die Sekte endete und der Staat begann.
2 DIE MAFIA KENNENLERNEN 1865 BIS 1877
Rebellen in Kordhosen
Wie die Camorra Neapels erstarkte auch die sizilianische Mafia durch das schmutzige Taktieren um die italienische Einigung.
Bevor Garibaldi im Jahre 1860 Sizilien eroberte und in das neue Königreich Italien eingliederte, war die Insel von Neapel aus regiert worden, als Teil des Königreichs beider Sizilien. In Sizilien waren die Gefängnisse des frühen 19 . Jahrhunderts genau wie in Neapel dreckig, überfüllt, nachlässig geführt und von Camorristi beherrscht. Die Revolutionäre aus der gebildeten Oberschicht gehörten geheimen Freimaurerbünden an wie den
carbonari
, den »Kohlenbrennern«. Im Gefängnis kamen sie in Kontakt mit Ganoven und rekrutierten sie als Aufrührer und Schläger. Schnell lernten die Gangster die Vorzüge freimaurerischer Strukturen schätzen, und die bourbonische Obrigkeit tat sich schwer, das Zepter zu führen, ohne mit den Ganoven handelseinig zu werden. In Sizilien wie in Neapel sollten die Patrioten zwar die alten Machthaber stürzen, dabei aber einige ihrer unseligen Übereinkünfte mit dem organisierten Verbrechen imitieren.
Allerdings war die sizilianische Mafia von Anfang an weitaus mächtiger als die neapolitanische Camorra, weitaus enger mit der politischen Macht verwoben und hatte die Wirtschaft weitaus erbarmungsloser im Griff. Warum? Ganz einfach: Die Mafia entwickelte sich auf einer Insel, die nicht nur gesetzlos war, sondern ein gigantisches Forschungsinstitut mit dem Ziel, kriminelle Geschäftsmodelle zu perfektionieren.
Die Probleme begannen bereits vor der Einigung Italiens, als Sizilien noch zum Königreich beider Sizilien gehörte. Die Autorität der Bourbonen war auf der Insel zerbrechlicher als anderswo. Diese stand zu Recht im Ruf, ein Brutkasten für revolutionäre Umtriebe zu sein. Abgesehen von einem halben Dutzend kleinerer Unruhen kam es in den Jahren 1820 , 1848 und natürlich im Mai 1860 , als Giuseppe Garibaldis Invasion der Rothemden den Sturz der Bourbonenherrschaft auf der Insel einleitete, zu größeren Rebellionen. Sizilien schwankte zwischen Revolution und Restauration.
Die Bourbonen in Neapel scheiterten kläglich, als sie versuchten, den Sizilianern ihr Ordnungssystem
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