Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Lissa zu Wasser und zu Lande demütigende Niederlagen bereiteten. Die anarchischen Zustände auf Sizilien waren wie ein Dolchstoß in den Rücken.
Es hätte noch weitaus schlimmer kommen können. Eines der Hauptziele der Revolte war das Ucciardone-Gefängnis, das zweieinhalbtausend Gefangene beherbergte; viele von ihnen würden sich den Reihen der Aufständischen anschließen. Die Rebellen umzingelten das Gefängnis und versuchten, eine Bresche in die Mauer zu schlagen. Doch gerade noch zur rechten Zeit kam am Morgen des 18 . September die Korvette
Tancredi
an, um die Angreifer mit Kartätschen und Granaten zu beschießen. Einer der ersten Männer, die getroffen wurden, die Beine in grotesker Weise von Schrapnell zerfetzt, war Turi Miceli, der 53 -jährige Anführer der Schar aus Monreale, die die Spitze des Revolutionszugs gebildet hatte; es dauerte Stunden, bis er seinen Verletzungen erlag, und das ohne die leiseste Klage.
Turi Miceli war ein Mafioso. Er war ein hochgewachsener, imposanter Mensch mit einer gut sichtbaren breiten Narbe im Gesicht. Gewalt war sein Broterwerb. Die Arkebuse über der Schulter, hatte er im Umland von Palermo Angst und Schrecken verbreitet. Doch zum Zeitpunkt seines Todes war Miceli ein begüterter Mann, einer der reichsten Bürger in Monreale. Die Camorra war zu Beginn eine proletarische Verbrechervereinigung gewesen, ausgebrütet im Abschaum der neapolitanischen Gefängnisse und Elendsviertel. Mafiosi wie Turi Miceli hingegen waren »Mittelstandsschurken«, wie ein früher Mafiaexperte sie zu bezeichnen pflegte. Im übrigen Westeuropa wäre dies ein Widerspruch in sich gewesen: »Es verstößt gegen jedes Prinzip der politischen Ökonomie und der Sozialwissenschaft«, stellte ein verblüffter Beobachter fest. Begüterte Männer hatten ein Interesse daran, die Gesetze zu bewahren – das verstand sich von selbst. Doch in der Umgegend von Palermo waren Grundbesitzer zu Kriminellen und deren Komplizen geworden. Im westlichen Sizilien war die Gewalttätigkeit ein Gewerbe für gesellschaftliche Aufsteiger.
Bevor wir also den gesellschaftlichen Aufstieg des Mafioso Turi Miceli nachzeichnen, lohnt es sich, die anderen augenfälligen Unterschiede zwischen ihm und jemandem wie Salvatore De Crescenzo hervorzuheben, dem »rehabilitierten« Camorraboss. Frühe Camorristi wie De Crescenzo verbrachten fast allesamt einen Großteil ihrer Verbrecherkarriere im Knast. Doch in den Dokumenten, die Turi Miceli nach seinem Tode hinterließ, taucht das Gefängnis nicht auf. Soweit wir wissen, hatte Miceli nicht einen einzigen Tag hinter Gittern zugebracht. Ähnliches gilt für viele andere Bosse, denen wir begegnen werden. Sizilien hatte zwar seine Gefängnis-Camorristi, und die Anführer der Mafia rekrutierten solche Männer gern. Doch einige der maßgeblichsten Bosse vervollkommneten ihre Fertigkeiten anderswo.
Das erste Geheimnis von Turi Micelis Aufstieg lag in dem Geschäft begründet, das er betrieb. Das Land rings um Micelis Heimatstadt Monreale war typisch für die Conca d’Oro. Es war in kleine Parzellen unterteilt, deren Hauptertrag aus Oliven, Weintrauben und vor allem Orangen und Zitronen bestand. Zitrusbäume sprachen nicht nur den ästhetischen Sinn ausländischer Besucher an, sie versorgten auch Siziliens wichtigstes Exportgeschäft. Von Palermo aus wurden die Früchte hauptsächlich über den Atlantik in die Vereinigten Staaten verschifft, wo der Markt boomte. Mit Zitrusfrüchten war eine Menge Geld zu verdienen: 1860 galten Palermos Zitrusplantagen als das gewinnträchtigste Agrarland Europas.
Die großen Gewinne zogen große Investoren an. Einen Orangen- oder Zitronengarten aus dem Nichts zu schaffen, erforderte weitaus mehr, als nur ein paar Bäume in den Boden zu pflanzen; es war ein kostspieliges, langfristiges Projekt. Hohe Mauern mussten gebaut werden, um die Pflanzen vor Kälte zu schützen. Es galt Straßen anzulegen, Lagerhäuser zu errichten und Bewässerungskanäle zu graben. Ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem war tatsächlich von ausschlaggebender Bedeutung, da Zitrusbäume, sofern sie ausreichend bewässert wurden, zweimal im Jahr Früchte trugen anstatt nur einmal. Doch selbst wenn all diese Vorarbeiten erledigt waren, dauerte es noch immer etwa acht Jahre, bis man die ersten Früchte ernten konnte, und noch einige mehr, bis die Investition sich auszahlte.
In der Conca d’Oro, wie überall auf der Welt, gingen Investition und Gewinn mit einem dritten
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