Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
vermeintlichen »Beschützer der Mafia« gar für eine Beförderung vor.
Unterdessen erhielt der Innenminister auch beunruhigende Informationen über den Oberstaatsanwalt Carlo Morena. Dieser hatte nicht nur den Mafiaboss De Michele verteidigt, sondern obendrein dringende Mitteilungen, in denen er auf diverse Formfehler hinwies, an Richter in ganz Westsizilien verschickt, um die Freilassung von Mafiosi zu erwirken, die unter Polizeiaufsicht standen oder zu einem »Zwangsexil« verurteilt worden waren. Der Minister erklärte sich als »zutiefst empört« über Morenas Verhalten.
Das Innenministerium verfügte jetzt über zwingendes Beweismaterial. Die Mär von Sangiorgis Beziehungen zum alten Gambino brachte ans Licht, dass nicht nur die Polizei, sondern auch Richter und Staatsanwälte von der Mafia unterwandert waren, und bewies einmal mehr, dass die unterschiedlichen
cosche
, die sich derselben Rituale befleißigten, tatsächlich
einer einzigen
kriminellen Bruderschaft angehörten; so entstand das lebhafteste Bild von der Mafia, das je durch polizeiliche Ermittlungen zusammengetragen worden war. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als werde einer der Machthabenden in Rom Notiz davon nehmen.
Doch nichts geschah. Der Innenminister, der »zutiefst empört« war über Morena, war schon bald gestürzt, und sein Nachfolger hatte andere Prioritäten.
Niemand hielt es für angebracht, der systematischen Unterwanderung von Polizei und Justiz durch die Mafia, die Sangiorgi aufgedeckt hatte, nachzugehen. Niemand nahm sich die Zeit, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der »Brudermord«-Affäre und der maßgeblichen Rolle, die der Oberstaatsanwalt Carlo Morena dabei gespielt hatte, indem er jedes Ansinnen, die Mafia als
eine
kriminelle Vereinigung zu betrachten, blockiert hatte. Morena blieb im Amt, doch aus unerfindlichen Gründen zog er sich 1879 , mit erst 58 Jahren, freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand zurück. Es wurden ihm sämtliche Ehren zuteil, die ihm dank seiner renommierten juristischen Laufbahn zustanden.
Der alte Gambino wurde der rauen Behandlung der Piana-dei-Colli-Mafia überlassen; sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Sein Sohn Salvatore war 34 Jahre alt, als er zu Unrecht wegen Mordes an seinem eigenen Bruder verurteilt wurde, und musste sein Leben lang Steine brechen.
Gegen die beiden Mafiosi, die Sangiorgi für die wahren Mörder Antonino Gambinos hielt, wurde nicht ermittelt; ebensowenig gegen die Männer, die dessen Bruder Salvatore verunglimpft hatten.
»Baron« De Michele wurde 1878 Bürgermeister von Burgio; sein Sohn sollte später ein Mitglied des Parlaments werden.
Dann wären da noch die ungenannten Opfer der Tragödie. Opfer, auf die nicht einmal Sangiorgi genügend Tinte verschwendete, um es dem Historiker zu ermöglichen, ihre Namen zu nennen: die Frauen. Wir verfügen über keinerlei Quellen, aber über genügend Phantasie, um ihr bedauernswertes Schicksal nachzuzeichnen. Zunächst sei die Gambino-Tochter in Palermo erwähnt, die gezwungen war, den Mafioso, der sie vergewaltigt hatte, zu heiraten – ein Mitglied ausgerechnet jenes Cusimano-Clans, der letztendlich sowohl ihren Onkel als auch ihren Bruder beseitigen würde. Dann die Tochter Licatas, die aus strategischen Gründen mit einem Gambino-Sohn verheiratet wurde, den man als Brudermörder verleumden sollte. In Burgio schließlich die Ehefrau von »Baron« De Michele: entführt, missbraucht, erneut entführt und zur Hochzeit gezwungen mit demselben Mann, der ihre Familie bestohlen hatte. Wir können nur vermuten, dass all diese Frauen den Rest ihres Lebens mit der Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten beschäftigt waren – Pflichten, die auch darin bestanden, wie Sangiorgi am eigenen Leib erfahren hatte, den Ehefrauen von Polizeibeamten lächelnd Drohungen zu übermitteln.
Es ist traurig, aber wahr, dass Inspektor Sangiorgi selbst ein wenig Verantwortung trägt für die Tatsache, dass die »Brudermord«-Affäre schließlich im Archiv landete. Verantwortung, jedoch keine Schuld. Es war eine Frage des Taktes. Dass Sangiorgi die Gambinos für Mafiosi hielt, scheint gewiss. Doch war er nicht so dumm, diese Tatsache in seinem Bericht an den Innenminister zu erwähnen, als seine Karriere auf dem Spiel stand. Denn damit hätte er all jenen Munition geliefert, die ihm nachsagten, er beschütze die Mafia. Er formulierte sein Schreiben daher mit äußerster Sorgfalt: Ihm sei durchaus bewusst, räumte er ein, dass die
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