Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
die verhassten Repressionsmaßnahmen der Rechten hatten glauben lassen. Die Entführung des englischen Betreibers einer Schwefelmine im November 1876 bedeutete, dass etwas geschehen musste. Anfang 1877 änderte die Linke daher ihren Kurs und schickte einen neuen Präfekten nach Palermo, damit dieser die Peitsche schwinge. In ganz Sizilien wurde ein umfangreicher Feldzug gegen die Mafia unternommen – ebenso rigoros wie unter der Rechten.
Angesichts dieses Gesinnungswandels in der offiziellen Haltung der Linken gegenüber dem organisierten Verbrechen auf Sizilien war Inspektor Sangiorgi ein viel zu wertvoller Trumpf, um im friedlichen Syrakus abgestellt zu werden. Zu Beginn des Jahres 1877 wurde er deshalb wieder in die Provinz Agrigent berufen, die Heimat einer weiteren Gruppierung der Mafia, wie man erst unlängst entdeckt hatte. Man erhöhte sein Gehalt und schlug ihn für einen Orden vor. Sangiorgi war nun wieder an vorderster Front und nahm erneut seinen »offenen Kampf gegen die Mafia« auf – vor allem gegen einen bestimmten Mafioso, nämlich Pietro De Michele, den Boss von Burgio, einer Ortschaft in der Nähe von Agrigent, wo Sangiorgi jetzt Dienst tat. De Michele bestand auf der Anrede »Baron«, obwohl er nicht wirklich ein Anrecht auf den Titel hatte. Sein Lebenslauf wies die typische mafiose Kombination von Verbrechen und rücksichtslosem politischem Opportunismus auf. Mehr noch, er zeigte, dass die Provinz Palermo nicht der einzige Ort war, wo Ehrenmänner sich sexueller Gewalt bedienten, um auf kürzestem Wege zu Wohlstand und gesellschaftlicher Stellung zu gelangen, und dass es in der Tat enge Geschäftsverbindungen gab zwischen Mafiosi aus verschiedenen Provinzen.
1847 hatte De Michele die Tochter eines reichen Großgrundbesitzers entführt und vergewaltigt, nachdem sie seine Avancen zurückgewiesen hatte. Doch der Schuss war nach hinten losgegangen. De Micheles Ruf war nämlich so miserabel, dass die Familie des Mädchens sich weigerte, ihn den Schaden, den er der Ehre ihrer Tochter zugefügt hatte, durch eine Hochzeit wiedergutmachen zu lassen: Die Familienschande war offenbar noch eher zu ertragen als die Ehe mit einem bekannten Ganoven. Doch De Michele wollte sich nicht geschlagen geben. 1848 schloss er sich den Revolutionären an und missbrauchte die Situation, um sich das Mädchen zurückzuholen, es zur Ehe zu zwingen und seiner Familie eine große Mitgift abzuknöpfen. Nachdem die Autorität des Bourbonenstaates wiederhergestellt war, saß er eine kurze Zeitlang im Gefängnis, und als er wieder auf freiem Fuß war, wurde er zahlreicher Morde verdächtigt.
1860 , als Garibaldi auf der Insel landete, schloss der »Baron« sich erneut den Revolutionären an. Im Zuge des Aufruhrs wurden sämtliche Polizei- und Gerichtsakten der Stadt verbrannt.
Auch als Sizilien ein Teil Italiens geworden war, führte De Michele die Viehdiebe und Banditen an, die in den 1860 er und 1870 er Jahren zwischen den Provinzen Palermo, Agrigent und Trapani ihr Unwesen trieben. Er bewaffnete sie, ernährte sie und versteckte sie vor den Behörden. Vor allem aber nutzte er seine Mafiaverbindungen, um ihr gestohlenes Vieh in weit entfernten Städten zu verkaufen: Tiere, die in der Nähe von Palermo gestohlen wurden, landeten als Schlachtvieh in Trapani, wo sie nicht mehr aufgespürt werden konnten.
Es war ein überaus lukrativer Handel. Als Sangiorgi De Michele erneut ins Visier nahm, war dieser der reichste Grundbesitzer der Gegend und hatte den Stadtrat vollkommen im Griff. Der furchtlose Inspektor zeigte De Michele gegenüber keinerlei Unterwürfigkeit. Er nahm ihm seinen Waffenschein ab, stellte ihn unter Polizeiaufsicht und ordnete seine Verhaftung an, sollte er Anstalten machen, unterzutauchen. Baron hin oder her, der Boss von Burgio sollte wie jeder andere dem Gesetz unterstehen.
Die schlechte Nachricht im Fall Gambino erreichte Sangiorgi kurz nach dem 28 . August 1877 . Der Inspektor in Agrigent las in der
Gazzetta di Palermo
den Bericht über den Ausgang des lange hinausgezögerten Prozesses. Man kann sich unschwer vorstellen, was er dabei empfand. Zunächst Enttäuschung: Die Geschworenen hatten die Geschichte des alten Gambino nicht geglaubt und Salvatore Gambino des Mordes an seinem Bruder für schuldig befunden. Er war zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden. Dann Resignation: Das Ergebnis kam nicht überraschend.
Sangiorgis Augen wanderten zum Resümee der Staatsanwaltschaft, das weiter unten
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