Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Ehrenwerten Gesellschaft wieder aus Italiens institutionellem Gedächtnis gerutscht.
Il tempo è galantuomo
, wie es in Italien so schön heißt: »Die Zeit wird’s richten«, oder wörtlicher: »Die Zeit ist ein Edelmann«. Vielleicht sollte es auf Sizilien besser heißen: Die Zeit ist ein Ehrenmann.
3 DIE NEUE KRIMINELLE NORMALITÄT 1877 BIS 1900
Geborene Verbrecher: Der Pöbel aus wissenschaftlicher Sicht
In Neapel wie in Palermo begann mit den späten 1870 er Jahren eine ruhige Phase in der Geschichte des organisierten Verbrechens. Aufeinanderfolgende linke Regierungen schienen sich mit der Camorra und der Mafia gütlich geeinigt zu haben. Die unterschwelligen Probleme, die den neuen Staat zu einem so gastfreundlichen Hausherrn für die Unterweltsekten gemacht hatten, häuften sich: politische Instabilität und Nachlässigkeit; der Pakt zwischen Polizei und Gangstern zur Verbrechensbekämpfung; die Herrschaft der Kriminellen innerhalb der Gefängnisse. Doch die kriminellen Geheimbünde verschwanden nicht aus der öffentlichen Debatte. Mafiosi und Camorristi spielten in der Tat eine bedeutende Rolle in der italienischen Kultur der 1880 er und 1890 er Jahre. Ihre Taten und Gewohnheiten, vor allem aber ihre Gesichter wurden öffentlich zur Schau gestellt – in Büchern und auf Bühnen. Die Italiener sahen immer wieder fasziniert und entsetzt zu. Doch gaben sie sich der Illusion hin, das Schauspiel sei lediglich eine Art primitiver Katzenjammer, ein Denkmal für alte Missstände, das schon bald dem Staub der Geschichte anheimfallen würde. Wenn Italien seine Gangsterbanden schon nicht ausrotten konnte, so konnte es zumindest die Ansichten darüber ändern: Die Thematik des organisierten Verbrechens wurde zur Ansichtssache. Unglücklicherweise war das gesetzlose Italien noch weitaus geschickter darin als das gesetzestreue, diese Ansichten zu manipulieren. Es war die neue kriminelle Normalität. Eine Normalität, die ironischerweise noch eine dritte kriminelle Bruderschaft in ihrer Mitte begrüßen sollte.
Die Rechte hatte kriminelle Vereinigungen begreiflicherweise als weitaus bedrohlicher angesehen als das gewöhnliche Verbrechen. Camorra und Mafia gefährdeten (zumindest nach der Meinung jener, für die sie ein wenig mehr waren als »vage Begriffe«) den Staat und dessen Vorrecht, Herrscher im eigenen Land zu sein; sie bildeten eine Art Staat im Staate, den keine moderne Gesellschaft tolerieren durfte.
Diese Sichtweise war schon immer auf Gegnerschaft gestoßen, nicht zuletzt bei Juristen, die der Meinung waren, dass der Kampf gegen den »Anti-Staat« der Regierung noch lange nicht das Recht gebe, die Rechte des Einzelnen mit Füßen zu treten. Besonders
ein
Gesetz erregte die Gemüter: Es war 1861 verabschiedet worden und richtete sich gegen »Vereinigungen von Delinquenten«. Es war das Gesetz, das in den Prozessen gegen die Mafia der späten 1870 er und frühen 1880 er Jahre Anwendung fand. Es besagte, dass fünf und mehr Personen, die sich in verbrecherischer Absicht zusammenfanden, sich jetzt noch eines zusätzlichen Vergehens strafbar machten – nämlich der Bildung einer »Vereinigung von Delinquenten«. Die Möglichkeit der Regierung, das Gesetz als Gummiparagraphen zu benutzen, um gegen politische Dissidenten vorgehen zu können, vergrößerte noch die Besorgnis der Juristen.
Das Gesetz wurde 1889 überarbeitet und neu formuliert als eine Maßnahme gegen »Vereinigungen in krimineller Absicht«. Doch einige grundlegende Dilemmata überlebten die Neuformulierung. Was genau war eine »Vereinigung in krimineller Absicht«? Wie konnte zweifelsfrei festgestellt werden, dass dieser Tatbestand vorlag? Auf der Suche nach einer Lösung floss juristische Tinte in Strömen. Eine »Vereinigung in krimineller Absicht« zog jedenfalls nur eine geringe Strafe nach sich – ein paar zusätzliche Jahre hinter Gittern. Es war demnach viel einfacher, Mafia und Camorra gar nicht erst umständlich vor den Richter zu schleifen. Stattdessen griff man auf das bewährte »Zwangsexil« zurück und verbannte jeden, der zweifelsfrei gegen das neue Gesetz verstoßen hatte, ohne Gerichtsverfahren kurzerhand in eine Strafkolonie. Anders ausgedrückt, das organisierte Verbrechen sollte nur beschnitten, nicht ausgerissen werden.
Der spitzfindige legalistische Ansatz zur Bekämpfung von Mafia und Camorra erwies sich als Sackgasse. Von den späten 1870 er Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts schien die Soziologie einen weitaus
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