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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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die
Blumen

    Meines Wissens ist dies die erste aufgezeichnete (und völlig entstellte) Version vom Gründungsmythos der ’Ndrangheta. Was sie deutlich macht, ist die Tatsache, dass kalabrische Gangster nach Legenden suchten, um sich einen Korpsgeist aufzubauen und ihrer neu entstandenen Zunft eine ähnliche Aura zu verleihen wie jene, die ihre Brüder in Kampanien und Sizilien umgab.
    Der Erfolg des gerichtlichen Vorgehens gegen die
Picciotteria
kann an der Zeugenaussage eines Priesters gemessen werden, der nur drei Jahre später bei einem weiteren Gerichtsverfahren in den Zeugenstand gerufen wurde. Er sagte:
    »In Palmi ist es aufgrund der Dreistigkeit der Kriminellen äußerst gefährlich, auf die Straße zu gehen, selbst vor dem Angelusläuten [bei Sonnenuntergang]. Anständige Leute gehen deshalb so früh wie möglich heim, weil in den belebtesten Stadtteilen zu jeder Zeit das Wehklagen der Verwundeten und Sterbenden zu hören ist.«
    Wenn die Gerichte in Palmi sich auch vergebens bemühten, den Einfluss der
Picciotteria
auf die Ebene von Gioia Tauro abzuschütteln, so lieferten sie zumindest historische Dokumente, die irgendwie vertraut klingen. Sogar in zweifacher Hinsicht. Einerseits erinnert vieles an der
Picciotteria
an die Ehrenwerte Gesellschaft von Neapel. (Bei einem frühen Prozess gegen die
Picciotteria
im Jahre 1884 fand man sogar heraus, dass der Verbrecherboss der kleinen Ortschaft Nicastro Kontakte zu dem berühmten neapolitanischen Camorrista Ciccio Cappuccio unterhielt.) Wie ihre neapolitanischen Vettern lieferten die Kalabresen sich Messerkämpfe und schlitzten ihren Opfern mit Rasiermessern die Gesichter auf. Beide Sekten profitierten von Prostitution und Glücksspiel; beide verpulverten ihre illegalen Einkünfte bei Festgelagen und Saufereien; beide folgten einem ähnlichen Kleidercode (ausgestellte Hosen und so weiter); und beide unterteilten ihre Banden in eine Untere und eine Obere Gesellschaft, in die »Ehrenwerte Burschen« genannten Anwärter, die jungen
picciotti
und die älteren Camorristi. Wie die Neapolitaner unterzogen die Kalabresen ihre Mitglieder bei Regelverstößen einer ausgesprochen unappetitlichen Strafe namens
tartaro
(»Tartaros«, »Höllenschlund«), die unter anderem vorsah, dass man den Frevler mit Urin und Kot beschmierte. Es gibt noch viele weitere Ähnlichkeiten, doch sie alle hier aufzulisten würde zu weit führen: zum Beispiel das kodierte Kauderwelsch, mit dem sie zu vertuschen pflegten, wovon die Rede war. Derlei Parallelen bestätigen, dass die neapolitanische Camorra wie auch die kalabrische Mafia dieselben Ursprünge haben. Beide sind aus
ein und derselben
Gefängnis-Camorra entstanden.
    Andererseits wirkt die
Picciotteria
auch deshalb so vertraut, weil sie der ’Ndrangheta von heute so ähnlich ist, mit
Società Minore
und
Società Maggiore
, dem Gründungsmythos von den drei spanischen Rittern und so weiter. Selbst die verworrensten Versatzstücke in Pasquale Trimbolis Zeugenaussage klingen stark nach dem, was wir von den gegenwärtigen Praktiken der ’Ndrangheta wissen. ’Ndranghetisti sprechen von ihrer Organisation üblicherweise als von einem »Baum der Erkenntnis«: Der Stamm steht für den Boss, die Zweige repräsentieren die Soldaten und so weiter.
    Die heutige ’Ndrangheta, mit ihren einzigartigen Aufnahmeritualen für jeden Rang, legt größeren Wert auf Zeremonien als die übrigen italienischen Mafiaorganisationen. Die archivierten Dokumente verraten, dass die kalabrische Mafia des ausgehenden 19 . Jahrhunderts im Begriff war, ähnliche Obsessionen zu entwickeln. Die moderne ’Ndrangheta verfügt auch über eine große Vielfalt spezialisierter Pflichten innerhalb jeder lokalen Gruppe – weitaus mehr als die sizilianische Mafia oder die neapolitanische Camorra. Die Wurzel der hohen Spezialisierung findet sich ebenfalls im 19 . Jahrhundert. Die
Società Minore
und auch die
Società Maggiore
der
Picciotteria
in Palmi hatten neben dem Boss und dem Buchhalter noch andere Posten zu vergeben: zum Beispiel jene des »Camorrista des Tages«, dessen Pflicht darin bestand, den Boss über lokale Vorkommnisse zu informieren; und die des »
picciotto
der Korrespondenz«, der für den Austausch zwischen den Mitgliedern im Gefängnis und solchen in Freiheit zuständig war. Kurzum, es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die
Picciotteria
eine frühe Form der ’Ndrangheta war, nur mit anderem Namen.
    Eine lange, abstoßende Geschichte hatte

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