Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
sozusagen mit einem Geburtsfehler auf die Welt gekommen, den auszumerzen Jahrzehnte dauern würde.
Obwohl der
zampognaro
das Angebot Domenico Calleas ablehnte, wusste er sich gegen die Aufmerksamkeiten der Freunde Calleas nicht zu wehren, wie er dem Untersuchungsrichter erklärte:
»Die Mitglieder der Verbindung kamen immer wieder zu mir und forderten mich zum Spielen auf. Ich müsste es tun, sagten sie, ob ich wollte oder nicht, weil sie das Sagen hätten. Manchmal bezahlten sie mich, manchmal nicht. Und ich durfte mich nicht beklagen, weil sie mir sonst die Sackpfeife zerstört hätten.«
Domenico Calleas
picciotti
begingen an dem Dudelsackspieler eine sogenannte
prepotenza
, wie die Polizei es nannte, eine »anmaßende Flegelei«. In diese Kategorie fiel auch die Zechprellerei oder die Belästigung der Ehefrau eines anderen. Doch in diesem Fall hatte die
prepotenza
einen eindeutig strategischen Zweck. Die
Picciotteria
war ein Geheimbund, was freilich ein wenig paradox erscheint, zumal die jüngeren Mitglieder auf das Tragen gewisser Haartrachten und Hosen nicht verzichten mochten. Dies ist wohl der Tatsache geschuldet, dass ihre Macht von ihrer Fähigkeit abhing, die Leute ihre Anwesenheit spüren zu lassen. Indem die
picciotti
den armen
zampognaro
nötigten, bei ihren Festen aufzuspielen, rissen sie eine der wenigen Ausdrucksformen des gemeinschaftlichen Dorflebens in Africo an sich, eine ungeheuerliche
prepotenza
gegen die gesamte Gemeinde. Mehr noch, es war der absichtliche Versuch, jedes Gemeinschaftsgefühl zu untergraben und durch Angst zu ersetzen.
Am 12 . Mai 1894 , der dem heiligen Leo geweiht war, dem Schutzpatron Africos, holte Domenico Callea den Sackpfeifer, damit dieser zu Ehren eines äußerst wichtigen Gastes aufspiele: Filippo Velonà, ein 38 -jähriger Schuster aus dem Nachbarsdorf Staiti. Die Gerichtsakten über Velonà geben uns eine klare, aber nicht sehr aussagekräftige Beschreibung: Er war einen Meter siebzig groß, hatte braunes Haar und braune Augen, eine »regelmäßige« Stirn, eine »natürliche« Gesichtsfarbe, einen »robusten« Körperbau und keine besonderen Kennzeichen. Kurzum, Velonà hätte jeder der zahllosen Handwerker sein können, die sich ihren Lebensunterhalt in den armen Berggemeinden Kalabriens mühsam verdienten. Der einzige Hinweis auf seine wahre Identität findet sich in der Aussage des Bürgermeisters vor Ort, der ihn als
cattivissimo
– als überaus böse – beschreibt. Immerhin war dieser Mann zweimal wegen Körperverletzung verurteilt worden und hatte sieben Jahre im Gefängnis zugebracht, weil er jemanden so heftig verprügelt hatte, dass der Betreffende seinen Verletzungen erlegen war. Als Velonà 1892 entlassen wurde, rief er die
Picciotteria
im Bezirk Bova ins Leben, zu beiden Seiten des zerklüfteten Tals, das der reißende Amendolea-Fluss aus dem Fels gesprengt hatte.
Die Dörfer im Bezirk Bova, einschließlich Africo, bildeten eine kulturelle Enklave auf dem Aspromonte: Ihre Bewohner sprachen nicht etwa das Kalabresische, sondern Griechisch – beziehungsweise Griko, einen griechischen Dialekt, der noch aus dem frühen Mittelalter überlebt hatte, als Kalabrien zum Byzantinischen Reich gehörte. Wie wichtig diese kulturelle Insel für die heutige kalabrische Mafia ist, zeigt sich bereits in der Tatsache, dass sich das Wort ’Ndrangheta von dem Begriff für »Männlichkeit« oder »Heldenmut« im Griko herleitet.
Doch das Ansehen des Bosses Velonà reichte über das Gebiet hinaus, in dem Griko gesprochen wurde: Er fand auch weiter im Nordosten Anerkennung, in Bovalino und San Luca, bis zum entfernten Portigliola. Dies war ein weiter Landstrich an der kalabrischen Küste – genauso groß wie die Ebene von Gioia Tauro hinter den Bergen; er deckt sich in etwa mit dem
Mandamento ionico
, dem »Ionischen Bezirk«, einem der drei Bezirke der heutigen ’Ndrangheta. Kein Wunder, dass das Fußvolk Velonà als seinen »Präsidenten« bezeichnete.
Velonà kam am 12 . Mai nach Africo, um einen neuen Rekruten dem Initiationsritual zu unterziehen. Die Formalitäten wurden hinter verschlossenen Türen erledigt. Der junge Mann unterwarf sich der Autorität des Bosses, indem er vor ihm niederkniete, ihm die Hand küsste und die folgenden Worte äußerte: »Vergib mir, Vater, wenn ich in der Vergangenheit vom rechten Weg abgekommen bin, und ich verspreche, in Zukunft nicht mehr vom rechten Weg abzukommen.«
Die Initiation wurde wie immer mit einem Festessen
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