Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
40 000 Einwohner nur zusammenbringen, indem sie die umliegenden Dörfer mit einschloss. Palmi war das Verwaltungszentrum der gesamten Ebene von Gioia Tauro, die insgesamt 130 000 Seelen umfasste, und verfügte über einen Außenposten der Präfektur, eine Polizeistation, ein Gerichtsgebäude und ein Gefängnis. Dank der Insassen dieses Gefängnisses wurde Palmi zur verrufensten Mafiahochburg Kalabriens der 1880 er und 1890 er Jahre.
Alles begann im Frühjahr 1888 . Das örtliche Informationsblatt berichtete plötzlich von Rasiermesserschnitten und rituellen Messerkämpfen. In Palmis Wirtsstuben und Bordellen kämpften Bandenmitglieder mit Stöcken und Messern um den Sieg. Auf klassische Mafia- und Camorramanier weigerten die blutenden Verlierer sich allerdings rundheraus, die Männer anzuzeigen, die ihnen die Wunden zugefügt hatten.
Wenige Wochen nach diesen ersten Berichten geriet Palmis Ganovenproblem außer Kontrolle. Gewöhnliche Bürger hatten Angst, aus dem Haus zu gehen. Jeder, der den Verbrechern die Stirn bot, wurde mit dem Rasiermesser traktiert. Die
picciotti
regelten ihre blutigen Geschäfte im Zentrum der Stadt, auf dem Corso Garibaldi und der Piazza Vittorio Emanuele. Sie hatten zunächst Geld von Glücksspielern und Prostituierten erpresst. Jetzt filzten sie auch Grundbesitzer, die aus Angst vor größerem Ungemach davor zurückschreckten, Einbrüche und Fälle von Vandalismus zur Anzeige zu bringen: Die
picciotti
trieben Schutzgeld ein – der Grundstein für die Territorialmacht jeder Mafia. Die Bande bedrohte einen Carabiniere vor Ort und bewarf ihn mit Steinen; sie brachte sogar die Lokalzeitung zum Schweigen, deren Herausgeber einen Drohbrief erhielt, in dem stand, er möge »die
picciotti
in Ruhe lassen«. Von Palmi aus verbreitete die Vereinigung sich auf die kleineren Ortschaften und Dörfer in der Ebene von Gioia Tauro bis hinauf zu den umliegenden Gebirgshängen.
Erst im Juni 1888 , als man einem Angestellten der lokalen Zweigstelle der Präfektur nach einem Theaterbesuch eine Schnittwunde zufügte, die quer über das ganze Gesicht verlief, trieb die Polizei den ersten großen Schwung Verdächtiger zusammen. Die 24 Männer, die zu Beginn des Jahres 1889 vor Gericht standen, geben uns einen ersten kurzen Eindruck, welcher Typ Mensch damals unter die
picciotti
ging. Viele von ihnen waren jung – um die zwanzig –, und alle waren sie Arbeiter oder Handwerker: Die Rechtsurkunden listen Berufsbezeichnungen auf wie Tagelöhner, Fuhrunternehmer, Kellner, Schneider, Mulitreiber, Schäfer. Einige wenige bestellten ihr eigenes Stück Land. Der Boss, ein gewisser Francesco Lisciotto, war Schuster; mit 60 Jahren war er mit Abstand der Älteste der Bande. Wichtiger aber war, dass er wie alle
picciotti
aus Palmi, bis auf drei, bereits eine Zeitlang im Gefängnis gesessen hatte.
Polizei und Justiz setzten ihren Kampf fort. Im Juni 1890 nahm ein Gerichtsverfahren ein
Picciotteria
-Netz ins Visier, das seinen Sitz in Iatrìnoli und Radicena hatte, zwei Orte, die etwa 15 Kilometer von der Küste bei Gioia Tauro entfernt unmittelbar übereinander lagen. Viele der 96 Angeklagten waren Arbeiter und Handwerker wie ihre Spießgesellen in Palmi. Die zuständigen Richter erklärten, die Sekte sei im Jahr 1887 entstanden, und hatten keinerlei Zweifel, woher sie kam.
»Die Vereinigung hat ihren Ursprung in den Bezirksgefängnissen (in Palmi) unter dem Namen ›Sekte der Camorristi‹. Als ihre Bosse und Förderer freikamen, verbreitete sie sich von dort aus auf andere Städte und Dörfer, wo sie bei der unreifen Jugend, bei alten Knastbrüdern und vor allem Ziegenhirten auf fruchtbaren Boden stieß. Mit dem Schutz, den die Vereinigung ihren Mitgliedern gewährte, bot sie ihnen die Möglichkeit, ihre Tiere verbotenerweise auf dem Land anderer Leute grasen zu lassen und sich gegen Grundbesitzer durchzusetzen.«
Männer wie der
capo
Francesco Lisciotto aus Palmi kamen aus dem Gefängnis frei, als sie sich innerhalb der kriminellen Sekte bereits einen Namen gemacht hatten. Anders gesagt, die ’Ndrangheta wurde nicht gegründet, sondern
entstieg
fast vollständig entwickelt dem Gefängnissystem.
Weitere Festnahmen und Gerichtsverfahren folgten in den darauffolgenden Jahren. Zu Beginn des Jahres 1892 verurteilte der Gerichtshof in Palmi etwa 150 Männer aus der Ebene von Gioia Tauro. Die
picciotti
bemühten sich nach Kräften, der Justiz zu entgehen, indem sie einen Zeugen töteten und viele andere
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