Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
begonnen.
Schwärzestes Africo
Die
zampogna
, der Dudelsack Süditaliens, ist ein unahnsehnliches altes Instrument. Es besteht aus einem ganzen Ziegen- oder Schafsbalg, der gehärtet und mit der wollenen Seite nach innen versiegelt wurde. Mehrere Holzpfeifen hängen an der Stelle herab, wo einmal der Kopf des Schafes saß, und ein Mundstück ragt aus dem Stumpf eines Vorderlaufs. Sobald die
zampogna
unter dem Arm des Spielers zusammengepresst wird, werden über einem einschläfernden Klageton, der wie das unablässige Blöken der Seele des entschlafenen Tieres anmutet, näselnde Melodien freigesetzt.
In den Bergdörfern Kalabriens war der Tanz zur
zampogna
eines der seltenen Vergnügen. Somit wäre ein Volkskundler, der sich am milden Abend des 1 . November 1894 , dem Allerheiligenfest, auf Africos Straßen gewagt hätte, nicht sonderlich überrascht gewesen, mehrere Männer zu sehen, die um den örtlichen Dudelsackpfeifer einen hüpfenden Reigen vollführten. Doch wie der
zampognaro
– sein Name war Giuseppe Sagoleo – später vor einem Ermittlungsrichter aussagen würde, hatte sein Spiel an jenem Abend nichts mit Folklore zu tun. Der Reigen war der sorgfältig choreographierte Auftakt zu einem Mord, der einen der größten
Picciotteria
-Prozesse der damaligen Zeit nach sich ziehen sollte. Glücklicherweise haben die vollständigen Prozessunterlagen die geologischen und geschichtlichen Erschütterungen überlebt und geben uns einen unbezahlbaren Einblick in eines der Epizentren dieser neu entstandenen kriminellen Organisation.
Doch um die Tänzer an jenem Allerheiligenabend zu begreifen, müssen wir die Zeit ein wenig zurückdrehen. Denn die brutale Hinrichtung, die an jenem Abend vollzogen wurde, war der Kulminationspunkt eines Kampfes um die Vorherrschaft in der Stadt, den die erst kurz zuvor entstandene Africo-Sektion der
Picciotteria
führte. Die
zampogna
spielte dabei eine zentrale Rolle. In Kombination mit den Aussagen anderer Zeugen führt uns Giuseppe Sagoleos Geschichte tief hinein in die Welt der ’Ndrangheta in ihrer ursprünglichen Form.
Seine Not, so der
zampognaro
, habe zu Beginn des Jahres angefangen, als Domenico Callea, 34 , in seinen Heimatort zurückgekehrt war. Callea hatte wegen der Entführung und Vergewaltigung einer Frau eine zehnjährige Haftstrafe verbüßt. Kaum waren ihm die Haare nachgewachsen – im Gefängnis hatte man ihm den Schädel geschoren –, frisierte Callea sich eine Schmetterlingstolle. Er schaffte spielend den Aufstieg vom Gefängnis-Camorrista zum höherrangigen
picciotto
, wurde Buchhalter der Sektion Africo und war außerdem für den Messerkampf zuständig.
Domenico Callea ging auf den
zampognaro
zu und schlug ihm vor, einer »Verbindung« beizutreten, die in Africo existiere. Weil er, Callea, einer der Anführer besagter Verbindung sei, könne er ihm sogar die siebeneinhalb Lire Aufnahmegebühr erlassen. Doch Sagoleo war so schlau, Erkundigungen einzuholen über diese Verbindung, ehe er Calleas Angebot annahm. Als man ihm sagte, dass die Mitglieder verpflichtet seien, den Befehlen der Bosse Folge zu leisten, selbst wenn diese zu einem Diebstahl oder Mord aufriefen, weigerte er sich, der Bande beizutreten.
Allerorten im südlichen Kalabrien machten Burschen wie Callea ähnliche Angebote. Sie verlangten fast immer eine Aufnahmegebühr von siebeneinhalb Lire – etwa Dreiviertel des Wertes einer Ziege, oder acht Prozent vom Preis für ein Schwein – und behaupteten, dass die Mitglieder der Gesellschaft sich lediglich zusammenfänden, um gemeinsam Wein zu trinken und sich zu amüsieren. Wer kein Interesse zeigte und nicht zahlen wollte, bezog entweder Prügel oder einen Schnitt mit dem Rasiermesser. Der
zampognaro
Sagoleo hatte Glück.
Diese einfache Methode, Geld aus neuen Rekruten herauszupressen, war eine klassische Strategie der Gefängnis-Camorra. Die
Picciotteria
würde sich ihrer noch Jahre bedienen. Die frühe ’Ndrangheta basierte also zum Teil auf einer Art Schneeballsystem, von dem nur die Bosse an der Spitze profitierten. Wie der Fall des Sackpfeifenspielers in Africo ebenfalls veranschaulichte, hatte diese Methode eine systemimmanente Schwäche, zumal sie eine Vielzahl neuer Mitglieder schuf, die der
Picciotteria
wenig echte Loyalität entgegenbrachten. Einer der Gründe, warum wir heute über die frühe ’Ndrangheta relativ viel wissen, ist die Tatsache, dass viele dieser neuen Rekruten alles der Polizei gestanden. Die ’Ndrangheta war
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